Verzweifelte Familien – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Missbrauch der Bibel

Lesezeit: ~ 5 Min.

Verzweifelte Familien – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Missbrauch der Bibel, gesprochen von Annette Behnken (ev.), veröffentlicht am 23.06.2018 von ARD/daserste.de

Super – ein Buch, mit dem ich alles begründen kann, was ich will. 31.171 Verse, 738.765 Worte – die Bibel. Mit ihr könnte ich, wenn ich das denn wollte, zum Beispiel begründen, dass Sklaverei was ganz Normales ist. Und dass man keine Störche essen soll. Wenn man das wollte, könnte man mit der Bibel auch begründen, dass Homosexualität nicht was ganz Normales ist. Und auch, dass man keine Klippdachse essen soll. Schweinefleisch übrigens auch nicht. Und dass Frauen in der Kirche schweigen sollen. Steht alles in der Bibel.

Trotzdem spreche ich in der Kirche, finde Sklaverei nicht normal, Homosexualität dagegen sehr und Schweinefleisch, Störche und Klippdachse esse ich nur deshalb nicht, weil ich sowas nicht mag. Aber: Steht in der Bibel. Nur: genauso steht da, dass es völlig okay ist, zu essen, was man will. Dass alle Menschen, egal welchen Geschlechts und welcher Nation, gleichwertig sind. Und dass die selig sind, die sanftmütig und barmherzig sind. Was nun?!*

Mit der Bibel und ja auch mit vielen anderen heiligen Schriften kann man Vieles begründen, im Zweifel sogar Unfug und großes Unrecht. Aber: in meinen Augen ist das Missbrauch der Bibel.

Missbrauch der Bibel
Es gibt ihn wirklich: Der Klippdachs

Frau Behnken, mit Ihren Anmerkungen zum „richtigen“ Bibelverständnis liefern Sie ein Musterbeispiel für den altbekannten rhetorischen Argumentationstrick „Kein wahrer Schotte.

Knackpunkt dabei ist Ihr Satz: „Aber: in meinen Augen ist das ein Missbrauch der Bibel.“

Mit anderen Worten: Wer durch die biblischen Aussagen, Aufforderungen und Behauptungen zu anderen Schlüssen kommt als Sie, der missbraucht aus Ihrer Sicht die Bibel. Damit erheben Sie den Anspruch zu wissen, welche Aussagen der Bibel gelten sollen und welche nicht.

Woher wissen Sie, wann Missbrauch der Bibel vorliegt?

Haben Sie sich schon mal gefragt, anhand welcher Kriterien Sie entscheiden, dass zum Beispiel Homosexualität trotz anderslautender biblischer Behauptung für Sie völlig ok ist? Woran machen Sie fest, ob Pflugscharen zu Schwertern oder doch eher Schwerter zu Pflugscharen geformt werden sollten?

Bibel-LogikAuf die Bibel können Sie sich dabei freilich nicht berufen. Denn die bietet, zumindest im letztern Fall, beide Optionen an.

Daraus folgt: Sie nutzen zur Definition Ihrer ethischen Standards irgendeine andere Moralquelle als die Bibel, um aus dieser bunten Textsammlung dann das herauszupicken, was Ihrer Meinung nach gelten soll und was nicht.

Ein solches Hineininterpretieren Ihrer persönlichen Moralvorstellungen in die biblischen Texte ist nicht nur überflüssig, sondern es birgt auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Denn damit tragen Sie dazu bei, dass die Bibel auch weiterhin als wertvolle, brauchbare Moralquelle angesehen wird.

Überflüssig und riskant

Und zwar eben auch von den Leuten, die Ihr Bibelverständnis als „Missbrauch der Bibel“ bezeichnen würden:

Am Donnerstag hat der amerikanische Präsident die Trennung von geflüchteten Familien an der mexikanischen Grenze beendet. Nun kommen die Kinder mit den Eltern zusammen in Arrest. Das ist weniger katastrophal als die Familientrennungen, aber immer noch eine gnadenlose Politik. Man kann, muss aber nicht, First Lady sein, um zu wissen, dass die Familientrennungen eine menschliche Katastrophe und ein politisches Armutszeugnis waren. Und man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt, wenn der amerikanische Justizminister solches Handeln auch noch mit der Bibel begründet. Das ist religiöse Überhöhung einer brutalen, gnadenlosen Politik.

Was ist von einer Ideologie (religiös oder nicht) zu halten, die sich (auch) zur Überhöhung einer brutalen, gnadenlosen Politik eignet? Wäre nicht die einzig redliche Konsequenz aus Ihren Erkenntnissen, sich sofort von dieser Ideologie zu distanzieren? Unabhängig davon, dass Sie ja offensichtlich zu ganz anderen Schlüssen kommen als der amerikanische Justizminister?

Und sich stattdessen für eine Stärkung der säkular-humanistischen Werte stark zu machen, also für die Werte, die sich an der Würde und Freiheit des Menschen orientieren und nicht an biblisch-christlicher Mythologie, die, wie Sie ja gerade ausführlich dargelegt haben, ein hohes Missbrauchspotential bietet?

Wörtlich oder nicht wörtlich gemeint?

Wenn man die Bibel wörtlich versteht, kann man alles mit ihr begründen und von allem das Gegenteil. Sie ist voller Widersprüche. Weil sie Geschichten vom Leben erzählt! So vielfältig und widersprüchlich, wie das Leben selbst.

Abgesehen von der Frage, warum ein allmächtiger allgütiger Gott ausgerechnet einen solch nebulösen, missverständlichen Weg wählt, um den Menschen seine Botschaft zu übermitteln (bzw. übermitteln zu lassen): Sobald Sie die Bibel nicht wörtlich nehmen, müssen Sie begründen können, welche Stellen nicht wörtlich gemeint sein sollen und warum.

Und wie gerade schon kurz beschrieben: Um das beurteilen zu können, benötigen Sie eine andere Grundlage als die biblischen Texte selber. Weil aus diesen eben nicht hervorgeht, was wörtlich gemeint sein soll und was nicht. Und auch nicht, wie das, was nicht wörtlich gemeint sein soll, denn dann stattdessen gemeint ist.

Das völlig beliebig auslegbare Sammelsurium an Widersprüchen ist die Grundlage, auf der Theologen, die sich mit der Bibeldeutung befassen, ihr Geld verdienen.

Die Mitte der Bibel

Aber all diese Geschichten kreisen um eine Mitte.

Und die finde ich da, wo einer Jesus fragt: „Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Ich finde die Mitte dieser Geschichten woanders, und zwar bei Markus 16,16:

  • Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. (Mk 16,16 LUT)

Wort GottesDas ist meiner Meinung nach die eigentliche „Mitte der Bibel.“ Und nicht die an die Gottes- und Selbstliebe geknüpfte Nächstenliebe. Betrachten wir die Gleichnisse im Neuen Testament, so laufen diese immer wieder auf diese Aussage hinaus: Unterwerft euch dem richtigen Gott, ansonsten wird er euch durch zeitlich unbegrenzte physische und psychische Höllenqualen für eueren Un- oder Andersglauben bestrafen.

Nebenbei bemerkt: Mit den vielen Textstellen, in denen Jesus klar stellt, worauf es seinem Vater (bzw. seinen anderen zwei Dritteln) wirklich ankommt, wird auch die Behauptung hinfällig, dass vor Gott alle Menschen gleich seien.

Und schon können homophobe Religioten (die ich an dieser Stelle ausnahmsweise tatsächlich mal als solche bezeichne) wieder ihre Lieblingsbibelstelle präsentieren, nach der es „ein Gräuel“ sei, wenn ein Mann bei einem Mann liege wie bei einer Frau.

Dann noch der Hinweis auf die Bibelstelle, dass Jesus nicht gekommen sei, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen, und schon ist Homophobie sauber biblisch begründet.

Barmherzigkeit. Nächstenliebe. Mitgefühl.

Kaum erstaunlich, dass Sie das mit der „Mitte der Bibel“ anders sehen, Frau Behnken:

Der Herzschlag der Bibel: die Nächstenliebe. Für viele, auch für mich: der Herzschlag des Lebens, aus dem heraus ich handeln kann und sagen, was meine tiefe Überzeugung ist: dass dies die stärksten Kräfte unseres Menschseins sind: Barmherzigkeit. Nächstenliebe. Mitgefühl.

Sie picken sich lieber die Nächstenliebe heraus, wohl weil diese am ehesten Ihren persönlichen Überzeugung zu entsprechen scheint. Nun ist aber schon allein dieser Begriff in mehrfacher Hinsicht höchst problematisch: Wer gehört denn zu den „Nächsten“ und wer nicht? Wie realistisch ist es, alle Menschen zu lieben? Können Atombomben denn als „Werkzeuge der Nächstenliebe“, wie von einem evangelischen Theologen behauptet dienen oder nicht?

Die Bibel selbst liefert keine brauchbaren Antworten auf diese Fragen. Es liegt einzig bei der persönlichen Einstellung des Lesers, welche Antworten er sich aus der Bibel heraussucht bzw. gelten lässt.

Damit scheidet die Bibel als Moralquelle aus. Man kann sie getrost ins Regal zu den anderen Göttermythen stellen und sich stattdessen zum Bespiel darüber Gedanken machen, wie es die globalisierte Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert schaffen kann, fair miteinander umzugehen.

Das scheinen Sie, Frau Behnken ja ohnehin schon zu tun. Aber welche Rolle kann dafür die höchst widersprüchliche Göttermythologie eines vormittelalterlichen Wüstenvolkes heute noch spielen? Eine Mythologie, die dazu erfunden worden war, um ein kleines Wüstenvolk einfacher zu führen?

Vernünftiges Denken statt nebulöser biblischer Mythologie

Ich glaube sicher, dass dies notwendige Gegenkräfte sind gegen die menschliche und politische Verrohung die derzeit an vielen Grenzen passiert – oder zu passieren droht. […]

BibelauslegungDamit diese notwendigen Gegenkräfte auch wirken können halte ich es für sehr wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, worauf diese Gegenkräfte basieren: Auf Menschlichkeit.

Mag die in der Bibel beschriebene Nächstenliebe noch als Handlungsanweisung für eine kleine, abgegrenzte Gemeinschaft funktioniert haben, so zeigt sich heute immer mehr, wie unbrauchbar sie für das Zusammenleben der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert ist.

Schon allein die Unklarheit des Begriffes „Nächstenliebe“ öffnet auch denen Tür und Tor, die meinen, jedes beliebige Verhalten mit dem erfundenen Willen und Wort eines ebenso erfundenen Gottes legitimieren zu können.

Frau Behnken, in Ihrem heutigen „Wort zum Sonntag“ plädieren Sie für Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Mitgefühl. Weil das Ihrer Einstellung entspricht, erklären Sie die Nächstenliebe zur biblischen Kernaussage, räumen aber gleichzeitig ein, dass man mit der Bibel alles Beliebige „begründen“ kann – und das genaue Gegenteil davon.

Was unterscheidet Ihre Einstellung von der eines Humanisten? Oder anders gefragt: Wofür brauchen Sie die biblischen Mythen und Legenden überhaupt noch?

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag zum Thema Missbrauch der Bibel.

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