Wer bin ich? Identitätsfindung à la katholisch.de

Lesezeit: ~ 5 Min.

Wer bin ich? Im Video-Format  „Glaube.Leben.“ von katholisch.de beantwortet Kaplan Christian Olding Fragen, die sich – jedenfalls nach Meinung von katholisch.de – jeder irgendwann mal stellt.

Wem keine Zeit oder Lust hat, sich das Video komplett anzuschauen: Eine Zusammenfassung und einige Gedanken dazu gibts direkt darunter.

Wer bin ich?

In seinem Video „Wer bin ich“ nennt Herr Olding zunächst drei, wie er sich ausdrückt ungute Wege, diese Frage zu beantworten:

  1. Ich bin das, was ich leisten kann.
  2. Ich bin das, was ich besitze.
  3. Ich bin das, was andere von mir sehen, was andere von mir denken.

Allen diesen Antworten attestiert Herr Olding, dass sie keinen Bestand haben, weil sie alle von heute auf morgen verschwinden könnn.

Natürlich sollte man sich dessen bewusst sein, dass nicht nur das Leben an sich vergänglich ist. Auch die persönliche Leistungsfähigkeit kann schwanken oder ganz abnehmen. Besitztümer können verloren gehen. Und auch das Ansehen, das jemand genießt, kann schwinden. Kann. Muss nicht.

Trotzdem zählen alle diese Punkte sicher für viele Menschen zu den Faktoren, über die sie sich definieren. Meiner Meinung nach spricht auch nichts dagegen, dies zu tun.

Es fällt in den Bereich der persönlichen Freiheit, ob sich jemand über seine Arbeitsleistung, seinen Besitz , über seinen „guten Ruf“,  über seine Briefmarkensammlung oder worüber auch immer definiert, solange er damitkeine gleichberechtigten Interessen seiner Mitlebewesen verletzt.

Nicht wenigen Menschen dürften diese Faktoren sogar genügen, um die Frage „wer bin ich?“ für sich selbst befriedigend zu beantworten.

Wem das nicht reicht, dem stehen praktisch unendlich viele weitere Wege offen, auf denen er sich der Beantwortung dieser Frage nähern kann.

Nur das, woran wir glauben…

Damit hält sich Herr Olding allerdings nicht auf. Wozu auch, schließlich wähnt er sich im Besitz nicht etwa nur einer sehr guten, sondern gar der einzigen richtigen Antwort auf die Frage „Wer bin ich“:

Wenn ich wissen will, wer ich bin, dann glaube ich fest daran, dass nur das, woran wir glauben, eine echte Antwort darauf ist.

Man beachte das „nur“ in dieser kühnen Behauptung. Herr Olding erhebt damit, zumindest für seine eigene feste Glaubensgewissheit, den Anspruch, dass nur seine Antwort überhaupt eine echte Antwort ist.

Wie diese Antwort aussieht, verrät Herr Olding natürlich auch. In der direkten Ansprache an seine Zuschauer:

Nämlich die Tatsache, dass du existierst, die Tatsache, dass du und ich in dieser Welt da sind, ist der größte Beweis dafür, dass es einen gibt, der dich gewollt hat. Ich habe mich nicht ausgesucht. Du hast dich nicht ausgesucht. Ich hätte auch gerne vielleicht manches an mir ein bisschen anders gehabt, aber das war nicht mein Wunschkonzert. Ich bin da. Und warum? Weil Gott mich will. Und das ist ein Beweis dafür, dass er mich liebt und dass er sagt: Du bist mein Kind und ich will, dass du existierst.“ Egal, was andere in mir sehen.*

Diese Ansicht halte ich nicht nur für reichlich arrogant, sondern gleich in mehrfacher Hinsicht für unsinnig.

Non sequitur in Folge…

Non SequiturAus der Tatsache menschlicher Existenz folgt keineswegs, dass es deshalb auch einen gibt, der diese Existenz gewollt hat.

Wenn überhaupt, dann haben die Eltern eines Kindes diesen (bzw. erstmal einen ihnen noch gar nicht bekannten) Menschen gewollt. Und leider ist nichtmal das immer zwangsläufig der Fall.

Dass es sich kein Mensch selbst ausgesucht hat, mit genau dieser seiner individuellen Ausstattung bzw. überhaupt geboren zu werden, ist eine Binsenweisheit.

Aber auch daraus, dass sich niemand aktiv selbst für seine eigene Existenz entschieden hat, folgt noch lange nicht, dass es deshalb einen Gott geben muss, der diese Existenz gewollt hat.

Ich halte die Behauptung, Gott hätte gesagt: „Du bist mein Kind und ich will, dass du existierst.“ für einen Ausdruck menschlicher Hybris einerseits und eines massiven Identitäts- und Realitätsverlustes andererseits.

Sich als von Gott gewolltes und geliebtes Wesen fühlen zu dürfen, bedient die Sehnsüchte eines selbstzentrierten Egos. Es befriedigt den Wunsch, etwas ganz Außergewöhnliches sein zu wollen.

Während Christen anderen Menschen gerne  Überheblichkeit unterstellen, scheinen sie selbst sich davon nicht betroffen zu fühlen. Ihr „Weg“ ist der einzig wahre, alle anderen Wege sind „ungute Wege.“

Von welchen Göttern würde sich Herr Olding wohl gewollt und geliebt fühlen, wenn er zum Beispiel in Indien geboren worden wäre? Oder in einer Amazonas-Region, in der bisher noch kein christlicher Missionar sein Unwesen getrieben hat?

Wenn man es nicht besser wissen könnte…

Allen drei als von Herrn Olding als „ungute Wege“ bezeichneten Identitätsquellen ist gemein, dass sie immerhin überprüfbar, nachweisbar, beobachtbar sind. Anders sieht es bei Herrn Oldings Antwort aus:

Wie groß muss der Minderwertigkeitskomplex sein, damit ein erwachsener Mensch im 21. Jahrhundert bereit ist, lieber einen erfundenen Gott für wahr zu halten und sich von ihm gewollt und geliebt zu fühlen? Als sich einfach einzugestehen, dass diese Vorstellung lediglich eine von Menschen erdachte Fiktion ist?

Zu einer Zeit, in der die Menschheit noch nichts über die evolutionären Vorgänge wusste und das Weltbild noch religiös-mythologisch geprägt war, mag die Vorstellung, von einem höheren Wesen erschaffen worden zu sein, noch plausibel und natürlich auch verlockend geklungen haben. Aber heute…!?

Was sagt es aus, dass zum Beispiel auch Serienmörder, Diktatoren oder sonstige Verbrecher genauso überzeugt wie Herr Olding behaupten können, von eben diesem Gott gewollt und geliebt zu sein? Ganz einfach: Einem Gott wäre es tatsächlich völlig egal, was andere in mir sehen. Genauso, wie es Göttern allgemein völlig egal zu sein scheint, was Menschen denken und wie sie sich verhalten.

Dass Herr Olding existiert, ist kein Beweis dafür, dass es einen (oder gar irgendeinen bestimmten) Gott gibt, der ihn gewollt hat. Herrn Oldings Existenz ist lediglich ein Beweis dafür, dass er von seinen biologischen Eltern gezeugt und von seiner Mutter geboren worden war.

Bei aller Toleranz für absurde Ansichten und egozentrische Vorstellungen: Alles andere ist bis zum Beweis (!) des Gegenteils Einbildung, Anmaßung, für wahr gehaltene Fiktion.

So etwas kann man sich ausdenken, einreden (lassen) und sich einbilden. Plausibler oder gar wahrer wird es dadurch freilich keineswegs. Non sequitur…

Redlicherweise kein „höherer Sinn“ erkennbar

Sollte hinter der Existenz des Lebens im Allgemeinen oder der Existenz von Herrn Olding im Besonderen tatsächlich ein höherer, übergeordneter Sinn eines wollenden und liebenden Wesens stecken, so ist dieser Sinn redlicherweise (noch und wohl auch noch bis auf Weiteres) nicht erkennbar. Diese eigene „Sinnlosigkeit“ haben viele Menschen schon immer als eine tiefe Kränkung empfunden.

Religionen bieten hier allerdings keine Antwort, sondern lediglich eine Illusion. Besonders gut hatte das zu den Zeiten funktioniert, zu denen sich Menschen noch nicht auf Menschenrechte verständigt hatten und die ethischen Standards statt auf humanistischen Werten noch auf religiöser Mythologie beruhten.

Diese Identität, diese Antwort auf die Frage: Wer bin ich?, die kann mir keiner nehmen.

Was Herr Olding hier als großen Vorteil anpreist, spricht in Wirklichkeit gegen die Wahrhaftigkeit seiner Behauptung. Die Nicht-Falsifizierbarkeit einer Behauptung ist immer ein starker Hinweis darauf, dass diese Behauptung nicht stimmt.

Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass dieser Umstand Gläubigen so oft nicht bewusst zu sein scheint. Die halten nicht selten „Aber du kannst die Nichtexistenz Gottes auch nicht beweisen“ tatsächlich für ein Argument, das für die Existenz ihres Gottes sprechen würde. Dabei ist das Gegenteil der Fall.

Natürlich kann Herrn Olding niemand die Grundlage seiner Identität nehmen. Wie das auch bei allen beliebigen sonstigen Fiktionen der Fall ist. Diese Identität funktioniert genau so lange, wie Herr Olding an sie glaubt. Vernünftiges, (selbst-)kritisches und redliches Denken ist eine bewährte Methode, aber freilich keine Pflicht.

In diesem Videobeitrag geht es primär gar nicht um die Frage „Wer bin ich?“, sondern vielmehr um die Frage „Warum bin ich?“

Für eine Christin auf Identitätssuche hatte ich schon mal diesen Beitrag verfasst, weshalb ich mir weitere Ausführungen hierzu erspare.

Fazit

  • Grundsätzlich: Lebewesen streben danach, ihr Wohl zu mehren und Leid zu vermeiden. Einen übergeordneten Sinn oder gar die Absicht und das Wirken eines Götterwesens lässt sich redlicherweise nicht erkennen.
  • Einfach zu behaupten und so zu tun, als wüsste man etwas über göttliche Absichten, ist unredlich und irreführend. Der Glaube daran ist eine Einbildung.
  • Wer seine ganze Identität auf einer Phantasiegestalt aufbaut, der begibt sich damit in eine selbstverschuldete Abhängigkeit, sehr zur Freude aller, die mit der Verbreitung von Glauben ihr Geld verdienen. Die Gefahren sind mit denen anderer Abhängigkeiten vergleichbar.
  • Auch ohne die absurde Einbildung, von einem Gott gewollt und geliebt zu sein, ist ein glückliches und (sinn-)erfülltes Leben sehr gut (meines Erachtens sogar noch besser) möglich.
  • Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, der braucht keine Religion. (Michael Schmidt-Salomon)

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem oben eingebundenen Videoclip, veröffentlicht am 24.4.2018 von katholisch.de auf Youtube.

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