Dem Rad in die Speichen fallen – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 7 Min.

Dem Rad in die Speichen fallen – Das Wort zum Wort zum Sonntag von Gereon Alter (kath.), veröffentlicht am 1.9.2018 von ARD/daserste.de

[…] „Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“ Das hat Dietrich Bonhoeffer gesagt. 1933.*

Am Beispiel Bonhoeffer lässt sich einer der wichtigsten Kritikpunkte an Religion als Moralquelle erkennen. Denn die Kirchenfunktionäre, die, um im Bilde zu bleiben, willfährig am Rad des Nationalsozialismus mitdrehten (und zwar auch noch nach dessen Ende, Stichwort: Rattenlinien), beriefen sich dabei auf dieselbe Lehre wie Bonhoeffer, der forderte, man müsse diesem „Rad in die Speichen fallen.“

  • Ein Pfarrer als Verschwörer? Fast unvorstellbar in Zeiten des auch in der Kirche weit verbreiteten deutsch-nationalen Denkens! Noch nach dem Krieg galt er vielen als Verräter, und auch Christen taten sich schwer damit anzuerkennen, dass Bon-hoeffer seinen Weg in den politischen Widerstand in der Nachfolge von Jesus Christus gegangen war. (Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung noz.de)

Dem Rad in die Speichen fallen - Das Wort zum Wort zum SonntagDie christliche Lehre war und ist geeignet, zur gleichen Zeit die schlimmsten Verbrechen religiös zu „legitimieren“ – als auch den Widerstand dagegen. Diese Kompatibilität resultiert aus der diffusen Beliebigkeit der biblischen Grundlage, aus der sich Gläubige jederzeit das herauspicken können, was ihrer jeweiligen Einstellung entspricht.

Während die evangelische Kirche gerade zum Protest gegen rechte Gewalt und für eine offene und freie Gesellschaft aufruft, sicherten polnische Katholiken unlängst ihre Landesgrenze durch Rosenkranzgebete.

Schwerter zu Pflugscharen oder Pflugscharen zu Schwerten – die Bibel bietet beides. Es liegt einzig im Auge des Betrachters, wen er zu den „Nächsten“ zählt, die Christen laut ihrer „Heiligen Schrift“ lieben sollen wie sich selbst.

Dem Rad in die Speichen fallen

[…] Es reicht nicht, im Rückblick auf die Ereignisse von Chemnitz sein Bestürzen zu bekunden, einen besseren Einsatz der Polizei zu geloben oder nach Einzeltätern zu fahnden. Es geht um mehr. Es geht um etwas Grundsätzliches. „Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“

„Dem Rad in die Speichen fallen“ bietet ebenfalls etlichen Interpretationsspielraum. Bonhoeffer hatte damit umschrieben, dass er die Beendigung der Nazidiktatur durch ein Attentat auf Hitler befürwortete.

Den Umstand, dass sich die Tötung eines Menschen nur schwer mit einem Anspruch auf unbedingte Gewaltfreiheit vereinbaren lässt, bewältigte Bedford-Strohm in einem ZEIT-Artikel wie folgt:

  • Es wäre freilich eine fatale Fehlinterpretation, Bonhoeffer zum bellizistischen Kronzeugen unserer Tage zu machen. Ja, er unterstützte das Attentat auf Hitler. In seiner Bereitschaft zur Schuldübernahme, als die Tötung eines Menschen geplant wurde, blieb er trotzdem seinem Engagement für die Überwindung aller Gewalt treu. Dem Rad gewaltfrei in die Speichen zu fallen war für ihn Priorität. (Quelle: Heinrich Bedford-Strohm auf ZEIT.DE)

Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen

In einer Situation wie der im 3. Reich wäre die Tötung des Diktators ethisch vertretbar, ja geboten gewesen. Millionen von Menschen hätten dadurch vor Tod und Elend bewahrt werden können. Im 4. der 10 Angebote des evolutionären Humanismus geht es um eben diesen Punkt:

  1. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale der Humanität durchzusetzen! Wer in der Nazidiktatur nicht log, sondern der Gestapo treuherzig den Aufenthaltsort jüdischer Familien verriet, verhielt sich im höchsten Maße unethisch – im Gegensatz zu jenen, die Hitler durch Attentate beseitigen wollten, um Millionen von Menschenleben zu retten. Ethisches Handeln bedeutet keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre. (Quelle: Die 10 Angebote des evolutionären Humanismus)

Dies beschreibt genau das Dilemma, in dem sich Bonhoeffer befand: Einerseits das Wissen, dass eine gewaltfreie Beendigung des Naziregimes nicht möglich sein würde. Und andererseits die Verpflichtung, den moralischen Geboten oder Verboten seiner Religion folgen zu müssen.

Sicher gibt es Parallelen zwischen der Gegenwart und der Zeit, in der der Nationalsozialismus an die Macht gekommen war. Zum Glück sind wir heute (noch) nicht in der Situation, einen Diktator stürzen zu müssen. Trotzdem gilt natürlich nach wie vor:

  • „Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.”
    Arthur Schopenhauer (1788 –1860), deutscher Philosoph

Wie wollen wir in Zukunft leben?

Die Fragen, die es zu beantworten gilt, lauten: Wie wollen wir in Zukunft leben? Als Individuum, als Bewohner einer Stadt, einer Region, eines Landes, eines Kontinents, als Weltbevölkerung? Und wie schaffen wir es, die Probleme zu lösen, vor denen diese Weltbevölkerung steht?

Meine persönliche „Zukunftsvision“ ist eine offene und freie Gesellschaft, wie sie, basierend auf den 6 Europäischen Werten, schon entstanden ist.

„Wo ist die bürgerliche Mitte?“, habe ich mich gefragt. Nicht nur in Chemnitz oder Sachsen, sondern überhaupt in unserem Land. Wo sind die, die es nicht tolerieren, dass sich ein wildgewordener Pöbel in Selbstjustiz übt?

Hass ist keine Selbstjustiz.

In einem Kommentar auf spiegel.de schreibt Frauke Böger:

  • [Doch] in Chemnitz gab es keine Selbstjustiz. Selbstjustiz ist, wenn jemand die Katze des Nachbarn vergiftet, weil die immer den Sandkasten der Kinder als Klo benutzt. Oder wenn eine Frau ihren Vergewaltiger erschießt. Selbstjustiz bedeutet, dass Betroffene die Vergeltung eines ihnen widerfahrenen Unrechts selbst ausüben. Das ist aus sehr guten Gründen verboten und strafbar.
    In Chemnitz ist ein Mensch gewaltsam getötet worden – zwei Tatverdächtige wurden festgenommen, die Justiz ermittelt. Rechtsextreme nutzen den Tod eines Menschen für ihre Zwecke: Um Jagd auf Menschen zu machen, die nicht so aussehen, wie sie sich Deutsche wünschen. Die gewaltsamen Angriffe auf Migranten sind keine Selbstjustiz. Hier werden Menschen attackiert, die mit dem Fall gar nichts zu tun haben. (Quelle: Kommentar von Frauke Böger auf spiegel.de)

Gerade bei Themen wie diesen wäre eine klare sprachliche Differenzierung wünschenswert.

Sachlich, differenziert und ausgleichend, aber auch klar und unmissverständlich

Wir brauchen eine Koalition der Wachen und Mutigen in unserem Land! Wir brauchen Menschen, die ihre Stimme erheben. Sachlich, differenziert und ausgleichend, aber auch klar und unmissverständlich, wenn es um die Würde von Menschen geht.

Dem stimme ich, bis hierher, uneingeschränkt zu.

Ich höre schon die Kritiker: Kirchenmann bleib bei deinem Leisten und misch dich nicht ein! Du hast noch nicht einmal von Gott gesprochen. – Habe ich nicht? Wirklich nicht? – Auch dazu hat Dietrich Bonhoeffer einen richtungsweisenden Satz formuliert: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Meint: Nur wer sich einmischt, hat auch das Recht von Gott zu sprechen und ihn zu besingen. Denn Gott ist einer, dem die Würde eines jeden Menschen am Herzen liegt.

Sobald Götter ins Spiel gebracht werden, ist der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Da es sich bei dem Gott, den Herr Alter verehrt um den biblisch-christlichen Gott handelt, kann die Behauptung, diesem Gott liege die Würde eines jeden Menschen am Herzen nur eine naive Wunschvorstellung sein.

Denn an einem lassen die Menschen, die sich diesen Gott, dessen Eigenschaften und Absichten ausgedacht hatten, keinen Zweifel: Nur wer bereit ist, sich diesem Gott vollständig zu unterwerfen, hat zumindest eine Aussicht auf „Erlösung.“ Alle anderen erwartet eine zeitlich unbegrenzte physische und psychische Dauerbestrafung durch Höllenqualen. Für das Vergehen, sich diesem Gott zu Lebzeiten nicht unterworfen zu haben.

Göttern ist die Würde des Menschen egal

Selbst wenn es den von Herrn Alter geglaubten Gott tatsächlich geben sollte und selbst, wenn diesem Gott tatsächlich, wie behauptet, die Würde eines jeden Menschen am Herzen liegen würde: Bis heute gibt es keinen einzigen Hinweis darauf, dass der allmächtige Allgütige jemals tatsächlich irgendetwas zur menschlichen Würde beigetragen hätte.

Es waren ausnahmslos immer Menschen, die im vermeintlichen Willen und Auftrag ihrer Götter gehandelt haben. Bezogen auf das Christentum resultierte daraus sicher auch Gutes, aber eben auch die 10bändige Kriminalgeschichte des Christentums.

„Sachlich, differenziert und ausgleichend, aber auch klar und unmissverständlich“ kann sich natürlich auch jemand äußern, der noch an die Existenz eines Wüstengottes aus der Bronzezeit glaubt. Nur: In einer Diskussion um Themen, die die irdische Wirklichkeit betreffen, sollte er diesen Gott nach Möglichkeit dort lassen, wo er in dieser Wirklichkeit ist: Außen vor.

Der Glaube an Gott kann zu allem Möglichen motivieren

Für mich ist mein Glaube an diesen Gott eine starke Motivation, mich einzumischen. Aber das zu tun ist bei weitem nicht nur ein christliches oder religiöses Gebot. Es ist die Aufgabe eines jeden Menschen.

Ich halte es für ein Armutszeugnis, wenn jemandem das Schicksal der Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt nicht Motivation genug ist, sich einzumischen. Die gleiche christliche Lehre, die Herrn Alter dazu motiviert, sich einzumischen, motiviert andere Gläubige zu einem Verhalten, das eine Einmischung erst erforderlich macht.

Monotheistische Religionen mögen ihren ursprünglichen Zweck, ein kleines Wüstenvolk einfacher zu führen oder später eine Staatsmacht ideologisch zu flankieren, seinerzeit sicher gut erfüllt haben.

Dazu bedienen sie sich der gleichen Werkzeuge, die auch bei Nationalisten und bei Leuten, die Menschen wegen ihrer Hautfarbe und/oder Herkunft diskriminieren (irrtümlicherweise meist als Rassisten bezeichnet) zum Einsatz kommen: Abgrenzung und Überhöhung der eigenen Gruppe, Erniedrigung/Ausgrenzung/Bedrohung/Verfolgung/Vernichtung aller Nichtzugehörigen. Nur dass an die Stelle von Religionszugehörigkeit hier meist Kriterien wie Herkunft, Ethnie oder Hautfarbe gerückt sind.

Nur der Aufklärung und der Säkularisierung haben wir es zu verdanken, dass Herr Alter heute nicht mehr zum Kampf gegen glaubensfreie Menschen aufrufen muss. Die wahnwitzige Vorstellung, dass die Welt erst dann eine gute werden könne, wenn alle Menschen katholisch sind, scheint er jedenfalls nicht zu verfolgen.

Ganz gleich welcher Konfession oder Religion wir sind…

Zwar nimmt er alle Menschen in die Pflicht („Es ist die Aufgabe eines jeden Menschen…“). Bei seinem Appell zur Menschlichkeit lässt er die hierzulande immer stärker wachsende Gruppe derer, die sich von mythologischem Götterglauben befreit haben oder die erst gar nicht damit indoktriniert worden waren aber komplett weg:

Deshalb: Tun wir uns zusammen, ganz gleich welcher Konfession oder Religion wir sind, und setzen wir uns gemeinsam gegen das aufkeimende Unheil in unserer Gesellschaft ein. Machen wir uns gemeinsam stark gegen Menschenverachtung und Diskriminierung – sei es am Rednerpult oder an der Supermarktkasse.

Das Ausklammern von 36% der deutschen Bürgerinnen und Bürger (fowid.de) ist jedoch nicht nur im „Wort zum Sonntag“ zu beobachten. So lieferte zum Beispiel auch Horst Seehofer gerade erst wieder ein „trauriges Beispiel für diskriminierendes Verhalten gegenüber religionsfreien Menschen.“ (Quelle: Replik zu Horst Seehofers Essay „Reden wir über Religion“ von Michael Geyer, bfg-muenchen.de).

Umgekehrt könnte man diese Aufforderung natürlich auch so deuten, dass konfessionell und/oder religiös gebundene Menschen offenbar eine Extraeinladung brauchen, um sich gegen Menschenverachtung und Diskriminierung stark zu machen.

Die Grenzen der Toleranz

Wie oben schon angedeutet, habe ich an der eigentlichen Aussage von Herrn Alter nichts auszusetzen. Es ist heute erforderlicher denn je geworden, sich für die Verteidigung der Werte, auf denen eine offene und freie Gesellschaft basiert aktiv einzusetzen.

In einer solchen Gesellschaft haben selbstverständlich auch religiöse Weltanschauungen aller Art ihren Platz, solange dadurch die Werte und ethischen Standards dieser Gesellschaft nicht verletzt oder gefährdet werden.

Diese Gefahr besteht – nicht nur, aber auch, was Kirchen und Glaubensgemeinschaften angeht. Deshalb gilt es, die Grenzen der Toleranz zu definieren und sich dafür einzusetzen.

Natürlich könnten und sollten sich Gläubige mal fragen, welche Rolle ihr untätiger und/oder gleichgültiger Gott überhaupt noch spielen soll, wenn es um die Frage geht, wie die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert zusammenleben sollte.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag „Dem Rad in die Speichen fallen“.

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