Auge um Auge – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Organspende

Lesezeit: ~ 7 Min.

Auge um Auge – Das Wort zum Wort zum Sonntag von Fraun Behnken zum Thema Organspende, veröffentlicht am 6.4.2019 von ARD/daserste.de

Ausgerechnet unter dem Titel „Auge um Auge“ teilt Frau Behnken im heutigen „Wort zum Sonntag“ ihre Gedanken zum Thema Organspende mit.

OrganspendeWie praktisch immer gehts auch diesmal wieder mit persönlichen Emotionen los: Frau Behnken berichtet von zwei Bekannten, die dank Organspende noch am Leben sind: Was für ein Geschenk, was für eine Aufgabe…

Und mit Tod und Sterben hat Frau Behnken ja auch berufsbedingt zu tun. Dies hat in erster Linie historische Gründe. Denn über viele Jahrhunderte hinweg waren soziale Aufgaben aller Art fest in kirchlicher Hand. Von diesem Image profitieren die Kirchen bis heute. Weil es sich nur sehr langsam herumspricht, dass jegliches soziales Engagement von Kirchenbetrieben zum allergrößten Teil vom Staat bezahlt wird.

Wer übrigens zu keiner Zeit religiös-seelsorgerischen Beistand wünscht, kann und sollte dies in einer entsprechenden Patientenverfügung dokumentiert haben. Zusätzlich gibts bei uns auch ein Notfallkärtchen kostenlos zum Download.

Organspende: Schwere Entscheidung

An der Grenze zwischen Leben und Sterben ist es oft unglaublich schwer, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Das erleben viele, die einen Menschen im Sterben begleiten. Ist das, was medizinisch möglich ist, jetzt auch sinnvoll? Das ist manchmal kaum zu entscheiden in diesem Bereich zwischen Leben, Sterben und Tod. In diesem Bereich befinden wir uns, wenn wir in diesen Tagen nach einem neuen, guten Gesetz für Organspenden suchen. In diesem Bereich müssen wir uns fragen: Was ist uns heilig? Was ist uns heilig im Leben und im Sterben?
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Wort zum Sonntag von Fraun Behnken zum Thema Organspende, veröffentlicht am 6.4.2019 von ARD/daserste.de)

Wäre mit „heilig“ hier so etwas wie „wichtig“, „bedeutsam“ oder „relevant“ gemeint, könnte ich sogar zustimmen.

Heilig? Nein, rein menschlich

Wegen der Verwechslungsgefahr mit der religiösen Bedeutung von „heilig“ würde ich diesen Begriff hier allerdings nicht verwenden. Denn es geht dabei nicht um etwas, das „einer Sphäre des Göttlichen, Vollkommenen oder Absoluten angehörig“ (Definition lt. Wikipedia) ist.

Sondern, ganz im Gegenteil, um ganz irdische, menschliche ethische Standards. Von Menschen für Menschen ausgehandelt und festgelegt.

Frau Behnken wählt genau diese Formulierung sicher nicht zufällig. Schließlich handelt es sich beim „Wort zum Sonntag“ ja nicht um „Behnkens Nachtgedanken“, sondern um eine christliche Verkündigungssendung mit Missionierungsauftrag.

Und da lässt sich immer wieder beobachten, wie die Fernsehprediger versuchen, ihre Glaubenslehre in Themen von allgemeinem Interesse hineinzuschmuggeln. Um so den Anschein zu erwecken, die Religion hätte zu diesem Thema auch etwas zu sagen.

Organspende = Nächstenliebe?

Bei einer gesetzlichen Regelung der Organspende gilt es, verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen:

  • Das Interesse am Recht auf Selbstbestimmtheit und körperliche Unversehrtheit,
  • das Interesse des Menschen, der eine Organspende benötigt, ein Spenderorgan zu bekommen
  • und das Interesse des Staates, diese beide Interessen unter einen Hut zu bekommen

All das hat mit „heilig“ nichts zu tun. Bei Frau Behnken natürlich schon:

Leben retten! Das ist uns heilig. Darüber müssen wir nicht diskutieren: Organspender sind Lebensretter. Als Christin und Mensch finde ich: es ist ein Akt der Nächstenliebe, seine Organe zu spenden. Aber: Nächstenliebe kann man nicht verordnen.

Ich kenne persönlich Christinnen, die nach eigener Aussage aufgrund ihres Christseins zu einem genau gegenteiligen Ergebnis kommen: Organspende kommt für sie nicht in Frage. Weder als Spender, noch als Empfänger. Begründung: Dies sei ein unzulässiger Eingriff in das Werk des Schöpfers.

Die Vorstellungen, bis zu welchem Punkt Eingriffe in das wunderbare, aber leider nun mal erschreckend mängelbehaftete vermeintliche Schöpferwerk zulässig sind, gehen je nach Schweregrad und Ausprägung der religiösen Verstrahltheit weit auseinander.

Und so finden sich Christen, die aufgrund ihres Christseins Organspende, aber zum Beispiel auch Bluttransfusionen, chirurgische Eingriffe oder Feuerbestattungen befürworten oder ablehnen. Natürlich jeweils sauber biblisch begründet. Soweit mein bei einer biblischen Begründung von „sauber“ sprechen kann.

Dieses Phänomen ist freilich nicht auf die christliche Herde beschränkt: Alle möglichen anderen Religionslehren haben ebenfalls die wunderlichsten Vorschriften im Portfolio, die ihre Anhänger unter Androhung schwerster Strafen (eigentlich) einhalten sollen: Bärte, lustige Frisuren und allerlei Essens- und Bekleidungsvorschriften seien hier nur beispielhaft genannt.

Moderne ethische Standards, aber auch unsere Gesetzgebung basiert nicht auf „Heiligkeit“. Sondern auf der Würde und Freiheit des Individuums als die obersten Werte. Was Frau Behnken oder sonstwer als „heilig“ bezeichnet und warum, spielt dafür keine Rolle.

So sollte es jedenfalls sein in einem Säkularstaat.

Wie weit Deutschland davon noch entfernt ist, zeigen die vielen Beispiele, in denen sich die Kirche bis heute anmaßt, die persönliche Freiheit nicht nur ihrer eigenen Schafe, sondern aller Menschen einzuschränken bzw. durch den Staat einschränken zu lassen.

Und hier geht es nicht nur um so harmlose Dinge wie Bärte. Da geht es zum Beispiel um Beschneidung von Kindern aus religiösen Gründen, um Abtreibung und um Sterbehilfe.

Wenn der Staat sagt, ihr seid alle automatisch Organspender, das ist sozusagen Normalzustand; und wer das nicht will, der hat einen Sonderstatus, den er erstmal in ein Register eintragen lassen muss – dann wird damit ein Druck ausgeübt, den ich nicht hilfreich finde.

Frau Behnken, fragen Sie mal einen Patienten, dessen Weiterleben davon abhängt, dass er möglichst zeitnah ein Spenderorgan bekommt. Der würde diesen Druck vermutlich als sehr hilfreich empfinden. Immer eine Frage der Perspektive.

Wichtige Diskussion

[…] Meine Sorge ist aber, dass wir nicht genug Augenmerk darauf legen, dass eine Organentnahme viel mehr ist, als ein technischer Vorgang. Viel mehr auch als anspruchsvolles medizinisches know how und Handwerk. Es ist ein Eingriff in den Sterbeprozess eines Menschen. Selbst unter Fachleuten ist es umstritten, ab wann ein Mensch wirklich hirntot ist. Und einen hirntoten Menschen als tot zu bezeichnen, fällt mir schwer. Er atmet, das Herz schlägt, er ist warm – nur durch medizinische Technik, ja, aber dennoch: es ist kein toter Mensch, sondern ein sterbender.

Gerade deshalb ist es ja auch in diesem Fall so wichtig, dass die zu treffenden Entscheidungen und die daraus resultierenden Gesetze nicht auf Emotionen oder magisch-mythologischen Fiktionen, sondern auf Fakten basieren: Wie muss eine Organentnahme gesetzlich geregelt sein, damit Missbrauch und Irrtum ausgeschlossen werden können? Ist der Zustand „hirntot“ ausreichend präzise definiert? Und wie hat die Feststellung dieses Zustandes erfolgen?

Was bedeutet hirntot?

In einem Kommentar zu einem Beitrag auf hpd.de erklärt „Daniel E.“ in diesem Zusammenhang:

  • Ein Mensch mit irreversiblen Ausfall aller Hirnregionen (Klein-, Großhirn, Hirnstamm) als lebendig zu bezeichnen ist schon arg grenzwertig. CT-, MRT- oder Röntgen-Bilder zeigen dies eindeutig. Und bitte nicht verwechseln mit Fällen in den USA oder England, wo lediglich der Ausfall des Hirnstammes als Todeskriterium gilt und demzufolge Hirntote sogar noch EEG-Ausschläge anzeigen können, welche in Deutschland definitiv als Koma-Patienten (und nicht als Hirntote) eingestuft werden.
    Ebenso sollte man wissen dass im durchbluteten Körper noch Körperprozesse stattfinden, die den Anschein erwecken der Körper sei lebendig. Aber Tatsache ist die Körperfunktionen haben nichts mehr mit den Gehirn zu tun, Körperreflexe gehen beispielsweise direkt über das Rückenmark. Ich kann durchaus verstehen dass manche Menschen das verwirrt und nicht als Tod akzeptieren. Wenn Sie allerdings den Hirntod als Übergang vom Leben zum Tod ansehen und noch nicht als Todeszeitpunkt anerkennen, will ich ihnen das nicht nehmen. Jeder darf seine religiöse oder philosophischen Ansichten vertreten, wie er möchte.
    (Quelle: Gita Neumann via hpd.de: Bundestagsdebatte zur Organspende – zukünftig automatisch?)

Wie oben schon angedeutet, geht es letztlich um eine Abwägung verschiedener Interessen: Soll der Staat entscheiden dürfen, was mit den Organen eines hirntoten Menschen geschieht? Eine andere mögliche Fragestellung: Soll der Staat überhaupt das Recht haben, von seinen Bürgen eine diesbezügliche Entscheidung zu verlangen?

Wer davon ausgeht, dass der Tod nicht das Ende des Lebens darstellt, kann allerdings nicht erwarten, in einer Diskussion um dieses Thema ernst genommen zu werden.

Zynisches aus der Bibel

Auge um Auge, Lunge um Lunge, Herz um Herz – ich habe Sorge, dass die Ehrfurcht vor dem Sterbenden und dem Sterben verloren geht.

Die Anlehnung an die biblisch-archaische Vergeltungsformel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist meines Erachtens denkbar schlecht gewählt, wenn es um das Thema Organspende geht.

Allerdings auch kaum erstaunlich, dass sich in der biblischen Mythen- und Legendensammlung nichts Passenderes findet: Diese Geschichten stammen aus einer Zeit, in der man Organe höchstens entnommen hat, um sie einer Gottheit zu opfern. Oder, um sich selbst vor göttlicher Strafe zu bewahren (Mt 5,29-30).

Und unter Umständen einer Logik der Ökonomie und der Machbarkeit geopfert wird.

Was für eine Logik soll das denn konkret sein? Woher kommt sie? Und wer sollte dieser Logik etwas opfern wollen? In den Raum gestellte, wohl bewusst nur nebulös-vage umrissene Schreckensszenarien halte ich für eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Organspende kaum geeignet.

Furcht und Ehre?

Ehrfurcht vor dem Leben, vor jedem einzelnen. Das ist mir heilig. Und Ehrfurcht vor dem Sterben, vor jedem einzelnen. Das Sterben als Teil dieses kostbaren und einzigartigen Lebens, das jetzt zu Ende geht. Als würde die unglaubliche und unendlich kostbare Tatsache, dass dieser Mensch gelebt hat, sich im Moment des Sterbens verdichten. Das ist mir heilig.

Genau wie auch schon „heilig“ halte ich auch den Begriff „Ehrfurcht“ für problematisch, wenn es um ethische Standards geht, die für die Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert gelten können sollen. Denn Ehrfurcht, also eine immer mit Furcht verbundene Verehrung bezeichnet die Hingabe an etwas oder jemanden, das oder den man höher einschätzt als sich selbst.

Keine Frage: Die Sterbephase ist ein höchst persönlicher, individueller und natürlich auch im wahrsten Sinn existentieller Lebensabschnitt. Die Begleitung Sterbender ist für Angehörige oder Freunde zumeist eine emotional sehr bewegende Angelegenheit. Nicht selten auch eine nur schwer zu bewältigende Ausnahmesituation.

So emotional der Sterbeprozess auch sein mag: Bei der Abwägung verschiedener Interessen wie zum Beispiel bei der Organspende, aber auch beim Thema Sterbehilfe erschwert eine Sprachvernebelung durch theologische Rhetorik wie „heilig“ oder „Ehrfurcht“ eine sinnvolle Diskussion. Die Regeln und Gesetze, mit denen Menschen ihr Zusammenleben regeln, stammen nicht von magischen Himmelswesen, die sich Menschen in der Bronzezeit ausgedacht hatten. Sondern von den Menschen selbst.

Säkularstaat, nicht nur auf dem Papier

Ich halte es deshalb für längst überfällig, dass alle Bereiche, in denen Gesetze heute noch auf religiösen Behauptungen und Vorstellungen beruhen, auf den Prüfstand der Vernunft gestellt und mit dem heutigen Wissensstand sowie mit der Lebenswirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert abgeglichen werden.

Von der daraus resultierenden individuellen Freiheit und Selbstbestimmtheit profitieren auch Gläubige: In einer offenen und freien Gesellschaft sind die Gedanken frei und somit kann jeder die Götter verehren, die verehrungswürdig erscheinen.

Für die Gesetzgebung in einem Staat, der nach eigener Definition „Heimstatt aller Staatsbürger“ sein will und der somit weltanschaulich neutral sein muss, ist es irrelevant, was jemand aufgrund seiner persönlichen religiösen Ansichten für „heilig“ hält. Heiligkeit ist kein Kriterium für rechtliche oder gesellschaftspolitische Entscheidungen. Außer vielleicht in Theokratien.

Immerhin: Themen, die bisher wie selbstverständlich dem kirchlichen Zuständigkeitsbereich zugeordnet worden waren, werden nun nach und nach im Licht von modernen humanistisch-ethischen Standards betrachtet und diskutiert. Wobei natürlich auch heute noch erschreckend viele Politiker und Entscheidungsträger die Legende von der christlichen Moral für wahr halten und die Kirche alles dafür tut, dass das auch noch möglichst lange so bleiben möge…

Mehr zum Thema

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag zum Thema Organspende.

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1 Gedanke zu „Auge um Auge – Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Organspende“

  1. Sehr klar herausgearbeitet: Die Debatte um Organspende und die Rolle des Staates dabei ist eine der schwierigsten und komplexesten in Moral- und Staatsphilosophie. Christentum und andere Religionen leisten dazu keinen sinnvollen Beitrag – und können das aus ganz grundsätzlichen Gründen auch nicht.

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