Wie wollen wir leben? – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

Wie wollen wir leben? – Das Wort zum Wort zum Sonntag von Pfarrer Wolfgang Beck, veröffentlicht von ARD/daserste.de am 30.1.2021

Darum geht es

Pfarrer Beck widmet sich heute der spannenden Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Seine Parallelen zwischen „Konvivialisten“ und dem Christentum sehen verdächtig nach einem Manöver aus, um von anderen Fragen abzulenken.

Sehnsucht nach Normalität

Ausgehend von der Sehnsucht während Coronazeiten nach Normalität kommt Herr Beck zur Frage, wie denn die Normalität in Zukunft aussehen soll. Gerade in Anbetracht von Klimawandel, Umgang mit Ressourcen, sozialer Ungerechtigkeit und den Nachteilen von wirtschaftlichem Wachstum (von dem die Kirchen dank ihres einzigartigen staatlichen Fremdfinanzierungsmodells hierzulande freilich trotzdem gerne und ausgiebig profitieren) könne es kein Zurück zur früheren Normalität geben.

[…] Mich beschäftigt diese Definition des „Normalen“, seitdem ich eine Diskussion in Frankreich mitbekommen habe. Da haben sich viele Menschen zusammengetan, genau mit der Frage: „Wie wollen wir eigentlich künftig leben?“

[…]Die Männer und Frauen der französischen Gruppe, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, nennen sich Konvivialisten – con-vivir – das bedeutet „Zusammenleben“. Deshalb ist das „Wir“ so wichtig. In dieses „Wir“ der Konvivialisten gehören alle.
(Quelle er so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Wie wollen wir leben? – Wort zum Sonntag von Pfarrer Wolfgang Beck, veröffentlicht von ARD/daserste.de am 30.1.2021)

Auf der Webseite der Konvivialisten, erfährt man, dass es hier nicht um das Zusammenleben nach oder mit Corona geht (die letzte inhaltliche Aktualisierung der Seite scheint 2016 stattgefunden zu haben). Sondern um die Gestaltung einer Post-Wirtschaftswachstumsgesellschaft. Also für die Zeit, wenn die Menschen die Ideologie vom endlosen Wirtschaftswachstum aufgegeben haben werden. Freiwillig – oder zwangsläufig.

Aus Sicht der Konvivialisten gibt es nur diese beiden Optionen: Entweder, die Menschheit gestaltet einen grundlegenden globalen Transformationsprozess selbst. Quasi „im laufenden Betrieb“ und mit so wenig Leid wie möglich.

Oder sie wird aus der Notlage nach einem globalen Kollaps der Weltwirtschaft oder des Weltklimas reagiert haben müssen.

Jesus, der alte Anarcho…

Der Lösungsvorschlag der Konvivialisten besteht laut Frank Adloff aus einer Überwindung des Utiliarismus vermittels einer „Synthese aus Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus.“

Obwohl diese -ismen üblicherweise von der katholischen Kirche kritisiert, abgelehnt bzw. auch vehement bekämpft wurden und werden, gibt es immer wieder auch einzelne Berufschristen, die auch hier Anknüpfungspunkte zum Christentum suchen.

Meistens folgen dann passend ausgwählte Jesuszitate. Oder ein Verweis auf das Urchristentum.

Wer sind „wir“?

Mit dem eigentlichen Konzept der Konvivialisten möchte sich Herr Beck offenbar nicht näher beschäftigen. Ihm genügt der Aspekt, dass es bei deren Überlegungen nicht um ein einzelnes Volk oder einen einzelnen Kontinent geht. Sondern um die Weltbevölkerung:

Wenn ich das „Wir“ so weit denke, dass alle dazugehören, dann verbietet sich eigentlich ein Leben auf Kosten anderer. Dann gibt es gelingendes Leben nur, wenn ich mich einschränke, damit auch die anderen Chancen auf ein gutes Leben haben.

Die 6 Europäischen Werte
Die 6 Europäischen Werte. (c) TeamFreiheit.info* – Humanistischer Verein für Demokratie und Menschenrechte

Die Frage, ob, wann und wenn ja, wie es der Menschheit gelingt, sich als Weltbevölkerung zu verstehen und die Auswirkungen des eigenen Handelns auf alle Mitmenschen (oder noch weiter gefasst: Auf alle Sauerstoff verstoffwechselnden Lebewesen) zu berücksichtigen, zählt wohl zu den größten Herausforderungen, die die Menschheit je zu bewältigen gehabt haben wird.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Da sich dieses Thema nicht sinnvoll in zwei, drei Sätzen abhandeln lässt, sei an dieser Stelle nur an die Internationalen Menschenrechte erinnert. Diese sind so formuliert, dass sie von allen Menschen eingefordert werden können, ohne an irgendwelche weiteren Bedingungen geknküpft zu sein wie zum Beispiel Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht, Staats- oder Religionszugehörigkeit etc.

Der Vatikan gehört zu den ganz wenigen Staaten, die die Menschenrechte bis heute nicht ratifiziert haben. Was der Vatikan auch gar nicht könnte. Weil er die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Informationen zu den Menschenrechten und den anderen fünf europäischen Werten, auf deren Grundlage offene und freie Gesellschaften entstehen können. gibts hier.

Jetzt wird es aber langsam Zeit, dass Herr Beck noch „irgendwas mit Religion“ bringt. Schließlich ist das „Wort zum Sonntag“ keine politische, sondern eine christliche Verkündigungssendung.

Wenn sich Religionen für alle Menschen „weiten“…

Für mich als Christen und Pfarrer sind diese Konvivialisten eine spannende Gruppe. Schließlich ist auch dem Christentum von Beginn eigen, sich immer wieder für alle Menschen zu weiten. Nur gelingt das nicht immer und muss kontinuierlich in Erinnerung gebracht werden.

Diese Parallele erscheint geradezu paradox: Bevor das Christentum zur Staatsreligion erklärt worden war, blieb der jüdischen Weltuntergangssekte gar nichts anderes übrig, als wirklich alle beliebigen Leute aufzunehmen. Allerdings unter einer einzigen Bedingung: Um „dazuzugehören“, musste man den „einzig wahren“ Glauben annehmen.

Und wie die spätere „Weitung“ des Christentums vonstatten ging, ist der 10bändigen Kriminalgeschichte des Christentums zu entnehmen: Mit Verfolgung, Unterdrückung und Gewalt gelang es erschreckend gut, sich kontinuierlich und sehr überzeugend in Erinnerung zu bringen.

Die Abgrenzung und Überhöhung der ingroup (=wir, das auserwählte Volk Gottes, die Guten, die Rechtgläubigen, die Erlösten…) gegenüber der outgroup (=alle anderen, die Bösen, von Gott wegen ihres Nicht- oder Andersglaubens zu Bestrafenden) ist eine grundlegende Eigenschaft praktisch aller monotheistischer Religionen wie auch dem Christentum.

Die biblisch-christliche Ideologie war zur Etablierung, Sicherung, Ausweitung und Legitimierung eben jener Zustände konstruiert worden, die es jetzt zu überwinden gilt.

Ihren eigentlichen Zweck, die einfachere Führung eines halbnomadischen Wüstenstammes in der ausgehenden Bronzezeit und später der Untertanen eines politischen Staates konnte sie sicher sehr gut erfüllen. Und auch heute noch scheint das Christentum wie gemacht für die Unterstützung absolutistischer, nationalistischer und partikularistischer Regierungen.

Religionen sind Teil des Problems. Nicht der Lösung.

Aus heutiger Sicht ist das Christentum moralisch orientierungslos. Und scheidet deshalb als Moralquelle für moderne ethische Standards aus.

Religionen waren und sind nicht Teil der Lösung. Sondern – im Gegenteil – ein nicht unerheblicher Teil des Problems:

Immer wieder, überall auf der Welt und in allen möglichen Formen und Ausprägungen verursachen Religionen direkt oder indirekt Probleme.

Immer wieder entzünden sich an religiösen Ideologien Hass und Kriege. Natürlich nicht ausschließlich und nicht nur an religiösen Ideologien. Aber eben doch immer wieder.

Dazu müssen noch nicht mal verschiedene Religionen aufeinander treffen. Es genügen schon unterschiedliche Konfessionen der selben Religion, um Gläubige dazu zu bringen, Glaubensbrüder mit nur marginal abweichenden Phantasievorstellungen deswegen als Feind zu betrachten und sie auch zu ermorden, wenn sie keine Ruhe geben wollen. Und immer will es Gott so.

Kaum eine Kriegsmeldung, in der nicht auch religiöse Zugehörigkeiten eine direkte oder indirekte Rolle spielen.

Was das Christentum betrifft, fängt das schon an, wenn ein Stadtpfarrer über seine Phantasien von der Errichtung eines ewigen Gottesreiches auf Erden schwafelt, geht weiter über die kirchliche Übergriffigkeit in Form von Einschränkungen der Selbstbestimmungsrechte aller Menschen bis hin zu der religiösen Legitimierung von politischen Verbrechen wie etwa in Brasilien oder auf dem Afrikanischen Kontinent.

Unvermeidliches Urchristentum

Auch biblische Texte wie die Apostelgeschichte beschreiben das von den frühen Gemeinden eher als Idealvorstellung.

…als hätte ichs gewusst 😉

Immerhin muss man Herrn Beck zugute halten, dass er offenbar gar nicht mehr den Anspruch erhebt, das Christentum könne irgendeinen konstruktiven Beitrag zur Werte- und Ethikdebatte leisten.

Seine Aussagen klingen für mich eher wie die sentimentalen Erinnerungen eines resignierten, gealterten Revoluzzers: „Ja ja, solche Ideen hatten wir früher auch schon mal…“

Wohl wissend, damit gescheitert zu sein.

Neigung zum „zu kleinen Denken“

Es gibt ja die Neigung, nur an die eigenen Leute, die eigene Nation, die eigene Konfession und Religionsgemeinde zu denken und damit die Verantwortung für alle aus dem Blick zu verlieren. Das drückt eigentlich ein zu kleines Denken, eine zu kleine Perspektive aus, meine ich.

Wie wollen wir leben?Wie eben schon kurz dargestellt, sind es doch gerade Religionen mit dogmatisch zementiertem absolutistischen Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch wie das Christentum, die  genau eine solche Neigung fördern.

Zu den sozio-kulturellen Aspekten des religiös induzierten, trennenden ingroup-Denkens kommt außerdem noch hinzu, dass Christen durch ihren Götterglauben ja eine Möglichkeit zur Verfügung steht, die Verantwortung an ein imaginäres höheres Himmelswesen abzugeben.

Deshalb würde ich den letzten Satz so formulieren:

Das drückt ein irrationales, magisch-esoterisches Wunschdenken, eine potentiell verantwortungslose Perspektive aus, meine ich. Un-eigentlich.

Das Für-Wahr-Halten von beliebig absurden Behauptungen wird von Religionen vorausgesetzt, gefördert und als „fromme Tugend“ honoriert. Wer sich seine intellektuelle Redlichkeit schon durch die Kultivierung dieser Methode für religiöse Zwecke korrumpiert hat, wird auch eher bereit sein, auch noch andere als religiöse Behauptungen unkritisch für wahr zu halten, solange sie nur den eigenen Wünschen, Ängsten und Hoffnungen entsprechen.

Imagine all the people…

Dagegen wirkt die Frage „Wie wollen wir künftig leben?“ wie ein wirksames Medikament. Wogegen? Gegen falsche Normalität! Vielleicht bietet sich ja jetzt die Gelegenheit für wichtige und notwendige Korrekturen mithilfe der Frage „Wie wollen wir – mit allen – künftig leben?“.

Meines Erachtens ist diese Frage nicht das Medikament. Sondern zunächst der – nicht minder wichtige – Wegweiser in Richtung der Zielsetzung.

Mit anderen Worten: Erst wenn ich weiß, wo ich ankommen möchte, kann ich meine Route dorthin planen.

Wohin mit Religionen?

Und diese Zielsetzung ist alles andere als klar: Katholiken wie der Fuldaer Stadtpfarrer Stefan Buß etwa träumen von der Errichtung eines „irdischen Reiches unter der Königsherrschaft Gottes.“ Das erinnert stark an die Islamisten, die als Ziel ebenfalls die Errichtung eines Gottesstaates verfolgen.

Natürlich gilt es, neben religiösen auch noch unzählige weitere Interessen unter einen Hut zu bringen.

Aus humanistisch-säkularer Sicht stellt sich deshalb Fragen wie diese:

  • Welche Rolle können/sollen Religionen nicht für, sondern in der zukünftigen Weltgemeinschaft noch spielen? Speziell jene Religionen, die Werte vertreten, die nicht mit den Werten einer offenen und freien Gesellschaft (angenommen, eine solche sei das Ziel) vereinbar sind? In deren Namen Menschen zum Beispiel wegen ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihres Geschlechts oder wegen ihres („falschen“ oder fehlenden) Glaubensbekenntnisses diskriminiert, verfolgt und auch getötet werden?
  • Was müsste am biblisch-christlichen Glaubenskonstrukt geändert werden, damit es nicht mehr für verbrecherische, nationalistische oder populistische Zwecke instrumentalisiert werden kann? Und was bliebe dann noch davon übrig, das nicht auch genauso (oder noch viel besser) ohne irgendwelchen Götterglauben begründbar wäre?

Ich fände es interessant zu erfahren, wie Herr Beck diese Fragen beantworten würde.

*Ergänzende Information

KLARSTELLUNG UND DISTANZIERUNG ZUR „PARTEI TEAM FREIHEIT“

Seit Januar 2021 gibt es in Deutschland eine Partei „Team Freiheit c/o“ (Rechtsanwälte Viviane Fischer und Dr. Reiner Füllmich). Der auf unserer Seite zitierte und genannte humanistische Verein TeamFreiheit© stellt auf seiner Webseite klar, dass der humanistische Verein TeamFreiheit© keinerlei Verbindungen zur oben genannten Partei pflegt. Man ist weder rechtlich noch inhaltlich verbunden und es bestehen keinerlei inhaltliche Überschneidungen in den Tätigkeiten der beiden Organisationen. Es handelt sich hier lediglich um eine unglückliche Namensgleichheit. Der Verein wurde mit Sitz in Graz gegründet und arbeitet bereits seit 2010 parteiunabhängig. Der Verein distanziert sich (genauso wie wir von AWQ.DE) von den Tätigkeiten gleichnamiger Parteien „Team Freiheit“ in Deutschland.

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