Die große Freiheit – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

Die große Freiheit – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien, veröffentlicht am 8.5.2021 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Gute Gründe sprechen für altruistisches Verhalten. Eine religiöse Vereinnahmung des Themas ist nicht nur überflüssig, sie schwächt sogar den an sich begrüßenswerten Aufruf, auch das Allgemeinwohl zu berücksichtigen.

Zunächst plaudert Frau Schardien über die vergleichsweise kleinen Freiheiten, nach denen sich alle in der aktuellen Corona-Situation sehen. Und die Geimpfte jetzt nach und nach wieder erhalten sollen.

Endlich wieder frei sein…

Weil das „Wort zum Sonntag“ halt immer irgendwas Religiöses beinhalten muss, biegt Frau Schardien nach dieser Einleitung schnell in diese Richtung ab. Bezugnehmend auf ihre Freiheiten, die sie dank ihrer berufsbedingten Impfungen jetzt bald wieder wird genießen können erklärt sie:

Denn das ist ja was Großartiges: Endlich wieder frei sein von den ganzen Einschränkungen und von der Angst um sich selbst…. Ich kenn das auch aus meinem Glauben: Hier spielt die Freiheit eine riesige Rolle.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Die große Freiheit – Wort zum Sonntag, verkündigt von Stefanie Schardien, veröffentlicht am 8.5.2021 von ARD/daserste.de)

Inwiefern Freiheit im christlichen Glauben eine riesige Rolle spielt, ist wohl eine Frage der Perspektive.

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ So hat das der evangelische Gründervater Martin Luther mal gesagt. Gott macht den Menschen frei vom ständigen Sorgen ums eigene Leben. Was für ein Riesengeschenk!

Der evangeliche Gründervater Martin Luther hat auch noch ganz andere Dinge gesagt. Woher kommen die Maßstäbe, nach denen wir heute unterscheiden können, was davon sinnvoll und was unmenschlicher, abstruser Schwachsinn ist? Jedenfalls nicht vom evangelischen Gründervater Martin Luther.

Eingebildete Freiheit

Es ist nicht Gott, der Menschen frei vom ständigen Sorgen ums eigene Leben macht. Sondern es ist vielmehr eine rein menschliche Wunschphantasie, die sich der Gläubige als wahr einbildet. Das Riesengeschenk kommt nicht von Gott. Damit beschenken (und betrügen) sich Gläubige selbst.

Weil zwischen Göttern und dem irdischen Geschehen bis zum Beweis des Gegenteils kein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist eine solche, vermeintlich von Gott geschenkte Sorglosigkeit eine bestenfalls irgendwie beruhigende Flucht vor der Wirklichkeit. Daran, was einem Sorge bereitet, ändert sich dadurch faktisch nichts.

Eine Freiheit schränkt der christliche Glaube auf jeden Fall schon mal ein: Die Gedanken- und Glaubensfreiheit.

  • Glaubst du, so hast du. Glaubst du nicht, so hast du nicht.
    (Quelle: luther2017.de: Martin Luther: Von der Freyheith eines Christenmenschen)

In der von Frau Schardien zitierten Schrift unterscheidet Luther zwischen einer „äußeren Dienstbarkeit“ (des Leibes) und einer inneren Freiheit, die der Seele. Damit erklärt er sich die widersprüchlichen Aussagen zum Thema Freiheit in der Bibel.

„Freiheit der Seele“

Für die „Freiheit der Seele“ gibt es für Luther natürlich nur eine einzige Option:

  • Es hat die Seele nichts anderes, weder im Himmel noch auf Erden, worin sie leben kann, recht, frei und Christ sei, als das heilige Evangelium, das Wort Gottes von Christus gepredigt.
    (Quelle: ebenda)

Hier geht es also verständlicherweise nicht um die Freiheit, die Menschen in einer Pandemie durch eine Impfung erhalten können. Sondern darum, dass die einzig wahre innere Freiheit durch den „rechten Glauben“ entstehen kann.

Für die Frage, wie Geimpfte mit ihrer Freiheit umgehen sollten, spielt der Glaube allerdings überhaupt keine Rolle. Außer für Frau Schardien, die ja berufsbedingt diesem Glauben irgendwie irgendeine Relevanz andichten muss.

Geschenkte Freiheit

Und trotzdem gibt es genau hier ein riesiges ABER.

Denn niemand darf jetzt hier so tun, als hätte man sich die neuen Freiheiten verdient und könnte nur noch mit Blick auf das eigene Glück losziehen. Wir Geimpfte haben die Freiheiten auch geschenkt bekommen. Nein, nicht nur vom Impfstoff! Sondern von all den Jugendlichen und Eltern und Kassierern und Busfahrerinnen, die in den letzten Monaten gesagt haben: „Ganz klar: Alte und kranke Menschen und die, die sie infizieren könnten, die sollen zuerst dran sein beim Impfen. Wir halten zusammen.“ Das braucht jetzt eine Fortsetzungsgeschichte.

Die Impfung kann ihren vollen Effekt erst dann entfalten, wenn ein gewisser Anteil der Weltbevölkerung geimpft ist.

Deshalb sollte es jedem und jeder ein Anliegen sein, nicht nur auf den eigenen, kurzfristigen Vorteil bedacht zu sein, den eine Impfung für einen persönlich bringt. Sondern auch darauf, dass man auch selbst davon profitiert, wenn eine globale, möglichst flächendeckende Impfung die Ausbreitung des Virus abschwächt.

Fatale Folgen sind zu befürchten, wenn die Impfung nicht global flächendeckend, sondern zum Beispiel begrenzt auf einzelne Länder oder Kontinente stattfindet: Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich möglicherweise noch gefährlichere Mutanten bilden.

Dienstbarer Knecht

Eine faktenbasierte Betrachtung halte ich auch in diesem Fall für wesentlich sinnvoller und überzeugender als von „Geschenken“ zu sprechen oder gar die verqueren religiösen Vorstellungen eines Martin Luthers ins Spiel zu bringen:

Martin Luther war auch nicht fertig mit seinem einen Freiheitssatz. Er hat sofort einen zweiten angefügt: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Heißt: Wenn ich erlebe, dass ich meine Freiheit geschenkt bekommen habe, dann ändert das mein Verhalten: Ich höre auf, um mich selbst zu kreisen. Ich bekomme andere in den Blick. Und dann setz mich für sie ein, gerne sogar.

Darum ging es Luther überhaupt nicht. Seine Aussage war sinngemäß zusammengefasst: Egal was du tust und egal wie sehr du unterdrückt, ausgebeutet und von der Obrigkeit deiner Freiheit beraubt wirst – das spielt alles keine Rolle, weil du dank deines „rechten Glaubens“ ja die innere Freiheit genießen darfst, die dir einzig und allein das Evangelium bieten kann.

Freiheit à la Luther

Wie sich Luther diese „Dienstbarkeit“ konkret vorstellt, ist in vielen seiner Reden überliefert. Hier nur drei Beispiele:

  • Es ist eine verdammte, verfluchte Sache mit dem tollen Pöbel. Niemand kann ihn so gut regieren wie die Tyrannen. Die sind der Knüppel, der dem Hund an den Hals gebunden wird. Könnten sie auf bessere Art zu regieren sein, würde Gott auch eine andere Ordnung über sie gesetzt haben als das Schwert und die Tyrannen. Das Schwert zeigt deutlich an, was für Kinder es unter sich hat, nämlich nichts als verdammte Schurken, wenn sie es zu tun wagten. Darum rate ich, dass ein jeder, der hier mit einem guten Gewissen handeln und das Rechte tun will, mit der weltlichen Obrigkeit zufrieden sei und sich nicht an ihr vergreife.
    (Martin Luther: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, 1526)
  • „Die Bauern gaben bei ihrem Aufruhr an, die Herren wollten das Evangelium nicht predigen lassen und schindeten die armen Leute, deshalb müsste man sie stürzen. Aber ich habe darauf geantwortet: Obwohl die Herren damit unrecht taten, sei es trotzdem weder billig noch recht, auch unrecht zu tun, d. h. ungehorsam zu sein und Gottes Ordnung zu zerstören, die nicht in unserer Verfügung steht. Sondern man müsse das Unrecht leiden.“
    (Martin Luther: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, 1526)
  • Christen verzichten darauf, sich gegen die Obrigkeit zu empören.
    (Martin Luther: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, 1526)

Einmal mehr erweist sich die religiöse Vereinnahmung des Themas nicht nur als entbehrlich, sondern als gründlich misslungen. Die absurden religiösen Phantastereien und die frag- und kritikwürdigen weltlichen Ansichten von Luther erklären oder begründen diesbezüglich rein gar nichts.

Argumente, die absurde Prämissen wie etwa interagierende magische Himmelswesen voraussetzen, sind immer schwächer als Argumente, die ohne solche Ausgangsvoraussetzungen auskommen. Und es ist ja keineswegs so, dass es es keine besseren Argumente für altruistisches Verhalten gäbe als zweckentfremdete Luther-Zitate…

Worum gehts hier eigentlich?

Das, worum es Frau Schardien (abgesehen von der Notwendigkeit, irgendwas mit Religion bringen zu müssen) offenbar eigentlich geht, lässt sich viel einfacher und vor allem allgemeingültig beschreiben und begründen.

Zum Beispiel anhand der so genannten Spieltheorie:

  • Die Spieltheorie ist eine mathematische Theorie, in der Entscheidungssituationen modelliert werden, in denen mehrere Beteiligte miteinander interagieren. Sie versucht dabei unter anderem, das rationale Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen davon abzuleiten.
    (Quelle: Wikipedia: Spieltheorie)

Mit dieser Theorie lassen sich die Folgen von kooperativem gegenüber nicht-kooperativem Verhalten untersuchen.

Ein leicht verständliches Beispiel liefert Frank Schätzing in seinem lesenswerten Buch „Was, wenn wir einfach die Welt retten?“ ab Seite 188. Schätzing verwendet die Spieltheorie hier zwar in Bezug auf den Klimaschutz. Die Theorie lässt sich aber genausogut auf das Verhalten von Menschen in der Pandemie übertragen.

Das Ergebnis lautet vereinfacht: Wenn Menschen nicht nur ihren eigenen, kurzfristig vielleicht sogar höheren Gewinn, sondern auch vielleicht nicht ganz so hohen, aber dafür mittel- unnd langfristig sicheren Gewinn der Allgemeinheit berücksichtigen, profitieren sie mittel- und langfristig auch selbst davon.

Eigennutz vs. Egoismus

SpieltheorieObwohl beide Verhaltensweisen dem jeweiligen Spieler nutzen, unterscheiden sie sich doch gewaltig. Die Begriffe „Egoismus“ und „Eigennutz“ ermöglichen es, die beiden Verhaltensweisen auch sprachlich unterscheiden zu können.

Nachdem diese Zusammenhänge bekannt sind, stellt sich die Frage, wie man Menschen dazu bringen kann, sich nicht egoistisch, sondern eigennützig zu verhalten.

Der Eigennutz an sich ist ja schon ein sehr überzeugendes Argument.

Nun zeigt aber ein Blick in die irdische Wirklichkeit, dass es offenbar immer auch Egoisten gibt. Deshalb stellt sich die Frage, welche Mittel am besten geeignet sind, um Egoismus zu unterbinden und Eigennutz zu fördern. Welche Spielregeln müssen gelten, damit sich möglichst alle eigennützig verhalten statt egoistisch?

Schätzing nennt hier drei Möglichkeiten: Bestrafung, Belohnung und – als wirksamste Methode – „Der gute Ruf.“ Denn wenn Verhalten, das auch der Allgemeinheit zugute kommt von der Allgemeinheit mit Anerkennung honoriert wird, dann kommt das wiederum auch dem zugute, der sich so verhält.

Glaube: Egal

Eine solche Argumentation steht auf einem stabilen Fundament. Ob und wenn ja was jemand glaubt, ob und wenn ja welche Götter jemand verehrt, ob und wenn ja wie sich jemand seine Weltanschaung mit religiösen Phantasievorstellungen verziert spielt dabei keine Rolle.

Ich freu mich mit allen, die bald Freiheiten geschenkt bekommen. Sie können eine Menge damit anfangen – vor allem aber eins: Jetzt auch mit den anderen zusammenhalten!

Vielleicht habe ich es überlesen, aber wie lautete man nochmal schnell die glaubensbasierte Begründung, warum man seine Freiheit dazu nutzen sollte, jetzt auch mit den anderen zusammenzuhalten?

Ihnen allen eine gesegnete Nacht! Geimpft oder nicht – da gibt’s Gott sei Dank keinen Unterschied.

Stimmt: Für die Wirksamkeit einer Segnung spielt der Impfstatus keine Rolle. Die hängt einzig davon ab, ob jemand daran glaubt.

Genau das ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen:

  • Eine Segnung hat, wenn überhaupt nur eine Wirkung, wenn man dran glaubt; die tatsächliche Wirkung besteht im Glauben an behauptete, fiktive Wirkung.
  • Eine Impfung wirkt – unabhängig davon, ob jemand daran glaubt oder nicht.

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1 Gedanke zu „Die große Freiheit – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Wie gut, dass AWQ doch immer wieder manches zurechtrückt, was oft zurechtgebogen wird, wie hier die Aussagen und Intentionen Martin Luthers. Es ist verständlich, dass vor allem ev. Gläubige und ihre Verkündiger*innen ihren Glauben gerne an die heutige Wohlfühl-Glaubenswelle anpassen würden. Aber das geben die alten Schriften nun mal nicht her. Und die Transformation, auch wenn sie schleichend erfolgt, ist zu platt und auffällig.

    Das Modell der Spieltheorie ist ein gut gewähltes Beispiel, wie altruistisches Verhalten mit realistischem Eigennutz gepaart sein kann, ohne von irgendwelchen, einem Gott zugeschriebenen Regeln, beeinflusst zu werden. Allein „sein Gesicht nicht zu verlieren“ – also ein Verlangen, das fast allen Menschen, die in einer Gruppe leben, zueigen ist, nutzt einem selbst und fördert das Allgemeinwohl. Welch geniale und natürliche Begründung!

    Der Vergleich zwischen Segnung und Impfung, also zwischen Glauben an eine Fiktion und wissenschaftlicher Forschung und damit Übereinstimmung mit der Realität ist gelungen und wichtig! Auch da im Moment allerorten wieder einmal schwer gesegnet wird, mit und ohne päpstliche Lizenz! Dazu gibt es aber sicher auch bald ein WzS und entsprechend ein WzWzS 😉

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