Sankt Martin und die Geflüchteten – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 7 Min.

Sankt Martin und die Geflüchteten – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Ilka Sobottke, veröffentlicht am 13.11.2021 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Mit ihrer Sankt-Martin-Erzählung belegt Frau Sobottke selbst, dass ausgerechnet der religiöse Aspekt völlig irrelevant ist, wenn es um altruistisches Verhalten geht.

Kennen wir schon

[…] Die Kinder sagen zu mir: „Frau Sobottke, das kennen wir doch schon, das ist Sankt Martin!“ Kennen wir schon.

(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Sankt Martin und die Geflüchteten – Wort zum Sonntag, verkündigt von Ilka Sobottke, veröffentlicht am 13.11.2021 von ARD/daserste.de)

Ja, kennen wir schon. Sankt Martin, dessen Legende Gläubige bis heute für besonders geeignet halten, um vorzugsweise Kindern vorzugaukeln, dieser Martin sei ein besonders gutes Vorbild für altruistisches Verhalten.

Fremdfinanzierte Mildtätigkeit und religiöser Fundamentalismus

Es ist der Martin, der als Bischof von Tours 20.000 Sklaven für sich schuften ließ. Und der sein Schwert nur in der Legende für eine mildtätige Textilteilung im Einsatz hatte. Eines Textils, das, nebenbei bemerkt, nicht mal sein eigenes war – man beachte die Parallelen zum Gebaren der Kirche heute, die sich ja auch gerne mit ihrer fremdfinanzierten Mildtätigkeit brüstet…

Ansonsten verwendete er es wohl, um die Menschen von seiner „frohen Botschaft“ zu „überzeugen“, denen diese Botschaft erstmal nicht allzu froh erscheinen wollte…

Andere Legenden rühmen den religiös-fundamentalistischen Fanatiker für dessen Zerstörung von Tempeln und Heiligtümern anderer Religionen. Religiös begründeter Fundamentalismus dieser Art ist bis heute einer der Gründe, warum Menschen aus Ländern flüchten, in denen Religionen noch die Macht dazu haben.

Ja – das alles kennen wir schon, hatten wir schon und belassen es deshalb bei einem Verweis auf diesen Beitrag.

Wie können Soldaten prügeln statt helfen?

Diese Geschichte auch: An der Grenze Menschen im Wald. Männer, Frauen und Kinder. Sitzen in der Falle. Trinken Regenwasser, haben nichts zu essen. Die Kinder sind krank, Menschen erfrieren. Journalisten und Hilfsorganisationen – nicht erlaubt. Soldaten auf der einen und auf der anderen Seite. Die einen Soldaten laden die Menschen im Wald ab, die anderen haben einen Zaun gebaut. Wenn Menschen es über die Grenze schaffen, werden sie zurückgeprügelt. Wie können die Soldaten das? Prügeln statt helfen?

Soldaten handeln für gewöhnlich im Auftrag von Regierungen oder Machthabern. Sie werden dafür bezahlt, Befehle auszuführen. Warum Soldaten prügeln statt helfen, kann mehrere Gründe haben:

Entweder, sie stehen selbst hinter der Ideologie ihrer Regierung. Und halten deshalb zum Beispiel Pushbacks für ein zwar unrechtmäßiges, aber trotzdem legitimes Mittel im Umgang mit Flüchtenden.

Oder, sie lehnen solche Maßnahmen eigentlich ab, führen sie aber trotzdem aus, weil ihnen bewusst ist, welche Konsequenzen eine Befehlsverweigerung für sie hätte.

Die Kirchen könnten vielen helfen, wenn sie wollten

Ich rede mit den Kindern in der Schule darüber, wie helfen geht. Manche von ihnen leben selbst in schwierigen Situationen. „Frau Sobottke, meine Mama sagt, man kann nicht jedem helfen.“ „Das stimmt“, sag ich. „Du alleine kannst nicht alle retten. Aber wir alle zusammen, wir können vielen helfen.“

Ja, das stimmt natürlich! Alle zusammen könnten vielen helfen!

Zum Beispiel auch die beiden christlichen Kirchen Deutschlands. Deren gemeinsames Vermögen 2017 auf rund 435 Milliarden (!) Euro taxiert worden war (Quelle).

Ei, wie vielen könnten die schon mit einem winzigen Bruchteil ihrer Besitztümer helfen! Wieviel akute Not lindern, wenn sie nur wollten! Stattdessen halten sie sich immer dann zurück, wenn es ums Bezahlen geht.

Und befeuern stattdessen ihre diverse Legenden: Die Kirche sei von akuter Armut bedroht (was trotz Corona-Einbußen nicht der Fall ist). Und natürlich die Caritas-/Diakonie-Legende, und dazu natürlich auch ganz allgemein die Legende von der selbstlosen, mildtätigen Kirche.

In Anbetracht der finanziellen Faktenlage erscheinen kirchliche Appelle zur Hilfe von Menschen in Not heuchlerisch und unglaubwürdig.

Dilemmata europäischer Außenpolitik

Nein, man darf Diktatoren nicht stärken und sich von ihnen vorführen lassen. Aber der Diktator führt das reiche Europa vor mit seinen Idealen und Werten. Auch das kennen wir.

Den einen zerreißt es das Herz, andere haben sich daran gewöhnt. Viele können nicht mehr hinsehen, gerade die Engagiertesten sind verzweifelt, ratlos. „Man kann nicht jedem helfen“.

Nachdem Frau Sobottke die Dilemmata der europäischen Außenpolitik dargestellt hat, stellt sich nun die Frage, inwieweit die Sankt-Martin-Legende hier einen sinnvollen Beitrag leisten kann:

Die Kinder singen: „Sankt Martin“ Für viele ist das nur eine freundliche Geschichte mit Laternen und Martinsmännlein. Es ist aber die Mitte des christlichen Glaubens. Martin hilft und in der Nacht erscheint ihm Jesus im Traum und sagt: „Was du dem armen Mann getan hast, das hast du mir getan.“ Martin hört Jesus – aber zuerst hat er auf sein Herz gehört.

Listen to your heart

Lack of empathy

Wenn es genügt, auf sein Herz zu hören, um auf die Idee zu kommen, sich altruistisch zu verhalten, wozu braucht es dann noch den ganzen religiösen Klumpatsch, den man sich einhandelt, sobald Götter, Geister und Gottessöhne ins Spiel kommen?

Ganz zu schweigen von der tatsächlichen Mitte des christlichen Glaubens, nämlich dem ungerechten und unmenschlichen biblisch-christlichen Belohnungs-Bestrafungskonzept (Mk 16,16)?

Solange sich Götter exakt so verhalten als gäbe es sie nicht, ist es ohnehin völlig egal, wie sie menschliches Verhalten bewerten.

Und auf die moralische Bewertung menschlichen Verhaltens haben angebliche Auswirkungen auf die religiös erweiterte Phantasiewelt ebenfalls keinen Einfluss.

Weniger bekannte, gleichwohl noch viel erstaunlichere Sankt-Martin-Legenden

Wir hören Martins Geschichte. Die Kinder kennen sie.

Aus irgendwelchen Gründen kennen wohl die meisten Kinder nur die eine Martins-Legende. Die vom geteilten Mantel.

Dabei existieren doch noch viel wundersamere Geschichtchen rund um diese bei Licht betrachtet ziemlich fragwürdige Gestalt.

So war Sankt Martin angeblich auch in der Lage, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Oder Menschen zu versteinern und sie wieder zu ent-steinern, wenn er sich mal vertan hatte. Kann ja mal passieren…

Eine Kuh, die er von bösen Geistern heilte, küsste Sankt Martin zum Dank die Füße. Gibt es einen deutlicheren Beweis, dass es der liebe Gott gut mit einem meint?

Während die bekannte Mantel-Legende ja selbst beweist, dass man auf mitmenschliches Verhalten offensichtlich ja auch ohne Götterglaube kommen kann, wären die anderen Wunderstories doch viel überzeugendere Zeugnisse göttlicher Auserwähltheit (oder eher: Besessenheit).

Und trotzdem scheinen diese unerhörten Wundergeschichten heute überhaupt keine Rolle mehr zu spielen.

dann redet Jesus mit mir

Wenn wir sie nachspielen, will jeder Sankt Martin sein, selbst der wildeste Junge. Die Kinder hören auf ihr Herz. „Ich will auch mal Sankt Martin sein, dann redet Jesus mit mir.“ „Vielleicht reicht es jemandem zu helfen, dann hast du Jesus schon gehört.“

Wenn Kinder „Sankt Martin“ spielen wollen, weil sie hoffen, dass dann Jesus mit ihnen redet, dann hören sie nicht auf ihr Herz. Sondern auf ein Märchen, die ihnen religiöse Erwachsene vorher als Glaubenswahrheit eingetrichtert hatten.

An dieser nur oberflächlich betrachtet niedlichen kindlich-naiven Aussage lässt sich die Problematik gut erkennen, die der religiöse Bezug hier mit sich bringt: Für das Kind bekommt altruistisches Verhalten einen besonderen Wert, weil es hofft, dass daraufhin Jesus mit ihm reden würde. Der bedürftige Mensch wird dadurch zum „Mittel zum Zweck“, genau wie auch in der Martinslegende (Hervorhebung von mir):

  • Da erkannte Martin, von Gott erfüllt, dass der Arme, dem die anderen keine Barmherzigkeit schenkten, für ihn da sei.
    (Quelle: martin-von-tours.de)

…und es wird nicht besser

Dazu kommt dann noch, dass in Wirklichkeit ja kein Phantasy-Jesus tatsächlich, also in Echt mit irgendwem redet.

Die vom Kind erhoffte „Belohnung“ für sein experimentell-altruistisches Verhalten bleibt also aus.

Als Kind besonders frommer Christeneltern könnte der Steppke nun vielleicht auf die Idee kommen, mal in der Bibel nachzuschauen, woran es denn gelegen haben könnte.

Die im Zusammenhang mit der Martinslegende genannte Bibelstelle (Hervorhebung von mir):

  1. Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
    (Mt 25,40 LUT)

Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer

Demzufolge war der Bettler-Darsteller also offenbar kein Bruder von Jesus. Sonst hätte sich Letzterer ja zu Wort gemeldet.

Dumm gelaufen für das kleine Martin-Double. Denn jetzt greift Mt 25 41-46:

  1. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
  2. Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
  3. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
  4. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
  5. Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
  6. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
    (Mt 25, 41-46 LUT)

Wie man es dreht und wendet: Mit mittelalterlichen Legenden und Bibelsprüchen handelt man sich völlig unnötigerweise einen ganzen Sack voller Fragwürdigkeiten und Widersprüche ein.

Unnötigerweise deshalb, weil wir doch längst viel bessere Argumente haben, die ohne magisch-esoterische Wirklichkeitserweiterungen und beschönigenden Geschichtsrevisionismus auskommen.

Einmal mehr sei in diesem Zusammenhang auf das lesens- und schenkenswerte Buch „Gut sein ohne Gott – Ethik und Weltanschauung für Kinder und andere aufgeklärte Menschen“ von Christian Lührs hingewiesen.

Wenn Kirchenvertreter Großzügigkeit predigen…

Können wir auf unser Herz hören? Vielleicht wie Martin: herabsteigen vom Pferd, den Mantel teilen, das Essen. Großzügig, mutig und gut sein. Das ändert mehr als nur ein Leben.

Ja, liebe Kirchen! Steigt herab von euerem hohen Ross, seid großzügig, mutig und gut! Und ändert mit einem Bruchteil eures Milliardenvermögens mehr als nur ein Leben.

Nicht durch die Verbreitung eurer magisch-esoterischen Glaubenslehre. Sondern durch nachhaltige, effektive Hilfe.

Und nachdem ihr das getan habt, könnt ihr euch ja gerne nochmal melden und auch andere Menschen einladen, eurem Beispiel zu folgen.

Zusammen die Ratlosigkeit aushalten

Zusammenhalten, zusammen die Ratlosigkeit aushalten und da helfen, wo es gerade am nötigsten ist. Vielleicht kennen sie das schon – und wissen, wie glücklich es macht, wenn auch nur eine oder einer gerettet wird.

Keine Frage: Dem einen, der vor irgendetwas gerettet wird, ist es wahrscheinlich völlig egal, ob es Glücksgefühle, Hoffnungen auf eine fiktive postmortale Belohnung oder irgendwelche andere Gründe sind, die den Retter dazu motivierten, ihn zu retten. Hauptsache gerettet.

Und natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, Menschen aus einer akuten, vielleicht sogar lebensbedrohlichen Notlage zu helfen, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Jeder Mensch, der zumindest versucht, einem anderen Menschen zu helfen und dessen Not zu lindern, erfüllt einen höheren ethisch-moralischen Anspruch als alle Götter zusammen.

…oder versuchen zu verstehen

Statt gemeinsam Ratlosigkeit auszuhalten, könnte man sich auch zusammentun und versuchen, die komplexen politischen Zusammenhänge und vielfältigen Ursachen zu begreifen, die dazu führen, dass Menschen heute noch Leid ertragen müssen.

Auch in diesem Bereich ist eine Weltanschauung von Vorteil, die möglichst mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Eine möglichst realitätskompatible Weltanschauung verzichtet auf magisch-esoterische Phantasie-Wirklichkeitserweiterungen und orientiert sich an den irdischen Gegebenheiten. Mit all ihren Problemen und Unwägbarkeiten – aber eben auch Chancen und Möglichkeiten.

Dass es diese Chancen und Möglichkeiten gibt, zeigt zum Beispiel die Entwicklung des Anteils der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt bzw. der diese Armut inzwischen überwunden hat:

Wenn man sich die Mühe macht und recherchiert, was die Welt tatsächlich fairer, friedlicher und gesünder machte und macht, dann landet man schnell bei Faktoren wie rationales Denken, Aufklärung, Säkularismus, Humanismus, sowie Demokratie und faire Handelsbeziehungen.

Und statt Kinder mit zurechtgestutzten religiösen Märchengeschichten so in die Irre zu führen, dass sie tatsächlich glauben, ein Jesus würde zu ihnen sprechen, wenn sie mal in die Rolle des Sankt Martin schlüpfen, könnte und sollte man sie besser mit den Werten bekannt und vertraut machen, auf denen freie und offene Gesellschaften entstehen können.

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3 Gedanken zu „Sankt Martin und die Geflüchteten – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Astrid Lindgrens Geschichten um Pippi Langstrumpf sind zur Vermittlung eines moralischen Koordinatensystems gut geeignet. Wie wäre es damit, Frau Sobottke?

    Die Bibel und christliche Märchengeschichten wie die vom mildtätigen Sklaventreiber Sankt Martin sind das sicher nicht. Warum lassen wir so etwas an unsere Kinder heran?

    Kindesmissbrauch durch Christen hat viele Facetten …

    Antworten
  2. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich damals selbst in den Kindergarten ging. Der wurde über die Jahrzehnte von einer Nonne geleitet und so gab es alljährlich selbstredend um den 11. November die Martinsumzüge mit Lampions und Pipapo. Da wurde dann nach dem Absingen diverser Martinslieder uns Kinder von ebendieser Nonne bedeutet, stehen zu bleiben und in den nachtschwarzen Himmel zu schauen. „Seht ihr, der heilige Martin schaut auf euch herunter und freut sich“ oder so ähnlich. Wir sahen in den dunklen Himmel und sahen natürlich – NICHTS. Das nennt man frühkindliche religiöse Indoktrination.

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