Kommentar zu NACHGEDACHT 77: Eines der schlimmsten Gefühle

Lesezeit: ~ 5 Min.

Kommentar zu NACHGEDACHT 77: Eines der schlimmsten Gefühle, Originalartikel verfasst von Christina Leinweber, veröffentlicht am 22.6.2014 von osthessen-news.de

Ich habe für mich das schlimmste Gefühl entdeckt – gespürt – erfahren. Es war noch nicht einmal in seiner schlimmsten Ausprägung. Es kam hervor, weil ich meinen Geldbeutel verzweifelt gesucht habe. Ich wusste nicht mehr, wo er war, wo ich ihn das letzte Mal hatte. Und da kam es hervor, schleichend, unerbittlich, stetig größer werdend: das Gefühl von Ohnmacht.*

An Ihrer Einleitung sieht man sehr gut, wie subjektiv die Wahrnehmung von Gefühlen ist. Wenn der vorübergehende Verlust Ihres Geldbeutels die Ursache für Ihr bisher schlimmstes Gefühl war, dann wissen Sie es hoffentlich zu schätzen, wie unglaublich und fast schon erschreckend sorgenfrei Ihr Leben bisher offenbar verlaufen sein muss. Wenn man die ersten beiden Sätze liest, ist man jedenfalls aufs Schlimmste gefasst.

Schwäche, ohne Macht zum Handeln – so könnte es definiert werden. Wenn keine Handlungsmöglichkeit mehr vorhanden ist, dann scheint die Aussicht auf eine Lösung der Verhältnisse verschlossen.*

Selbst wenn Sie zum Beispiel in einem abstürzenden Flugzeug sitzen haben Sie noch Handlungsfreiheit (wenn auch keine wirklich sinnvollen Handlungsmöglichkeiten mehr). Der Verlust eines Geldbeutels macht Ihnen das Einkaufen zwar kurzfristig etwas unbequemer, aber der Ohnmachtsfaktor ist objektiv betrachtet doch lächerlich gering, oder?

Was, denken Sie, würde ein Mensch, der in der Sahelzone kurz davor ist zu verdursten, von Ihrer Geschichte halten? Oder ein Mensch, der vom Hals abwärts querschnittgelähmt ist? Oder ein Kriegsgefangener, der von Terroristen festgehalten und gefoltert wird?

Dazu fallen mir nur noch einige Zeilen aus einem Song** von Paul Simon ein:

As if everybody knows what I’m talking about
As if everybody here would know exactly what I was talking about
Talking about diamonds on the soles of her shoes

[…] Ohnmacht erhält von mir Platz eins der schlimmsten Gefühle, noch höherklassiger als Angst. Denn die Angst kommt bei der Ohnmacht frei Haus dazu. Mein Mitsucher meinte noch: „Die Nerven verlieren, hilft jetzt nicht.“ Aber das waren nur nette Worte, geholfen haben sie nicht. Was macht man denn in solch einer ausweglosen Situation? Wie bezwingt man so etwas?*

Indem man kurz durchatmet und sich bewusst wird, wie völlig unbedeutend der Verlust eines Geldbeutels (wenn man nicht gerade, zum Beispiel aufgrund einer psychischen Erkrankung, den Verlust eines Geldbeutels tatsächlich als lebensbedrohlich empfindet) im Vergleich zu wirklich ausweglosen Problemen ist!

Danach sucht man nochmal gründlich, fragt beim Fundamt nach und wenns dumm gelaufen ist, besorgt man sich seine Dokumente neu. Dann nimmt man seinen Geldbeutel, fährt in den Supermarkt und kauft die Zutaten für ein großes Festmahl und dazu einige gute Flaschen Wein. Dann fährt man heim, bereitet ein opulentes Abendessen zu und lädt ALLE seine Freunde und Bekannte ein um mit ihnen ein rauschendes Fest bis in die Morgenstunden zu feiern, was für ein sorgloses und unbekümmertes Leben man genießen darf! So bezwingt man so etwas!

Tatsächlich war auch Jesus einmal in solch einer Situation.*

Er hat seinen Geldbeutel verloren? Sie vergleichen das (zwar möglicherweise nicht reale, aber trotzdem vorstellbare) Leid eines Menschen, der gerade zu Tode gefoltert wird, ernsthaft mit dem Verlust Ihres Geldbeutels!?

Das Markus- und Matthäusevangelium liefern uns den Ausruf purer, schonungsloser Ohnmacht: „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ So ruft Jesus qualvoll vom Kreuz hinab – er fühlt sich verlassen, der Sohn Gottes ist machtlos.*

Diese Situation würde ich allerdings auch als Ohnmacht beschreiben. Wenn man in einem menschlichen Körper unterwegs ist, sind die Handlungsmöglichkeiten in dieser Situation tatsächlich so stark eingeschränkt, dass es auch nichts mehr hilft, wenn man von sich behauptet oder der Meinung ist, der Sohn Gottes zu sein, weil Gott ja bekanntlich noch niemals in irgendeiner nachweisbaren Form real in Erscheinung getreten ist.

Interessanterweise fand Johannes, der kreativste unter den Evangelisten, diesen angeblichen Ausspruch Jesu wohl so unpassend, dass er ihn in seiner Geschichte einfach mal komplett weggelassen hat, obwohl ihm ja die Originaltexte vorlagen. Diese allzu menschliche Regung passte offenbar nicht in das Wunschbild, das Johannes von Jesus kreierte.

Aber gläubige Christen wissen – auch diese unerträgliche Situation wurde gelöst.*

Die Situation wurde nicht „gelöst“, sie hat sich verändert, und zwar durch den Tod des Menschen, dessen Körper aufgrund der qualvollen Folter irgendwann aufhörte zu funktionieren. Menschen, die den Tod anderer Menschen als „Lösung“ beschreiben, sind mir grundsätzlich äußerst suspekt.

Der Glauben hat schlussendlich gesiegt.*

Das ist eine völlig unbelegbare, beliebige, arrogante Behauptung. Wessen Glauben? An wen? Inwiefern gesiegt? Mit der selben Gewissheit kann ich behaupten: Das Fliegende Spaghettimonster hat schlussendlich gesiegt. Oder Papa Schlumpf™. Oder Voldemort.™ Oder die Zahnfee.™

Die Sache Jesu, sein Wirken hat auch die Ohnmacht des Todes überwunden. Das Leben Jesu hat gesiegt.*

Selbst wenn man unterstellt, es habe Jesus Christus gegeben (was alles andere als sicher ist; einen angeblichen Gottessohn, der von einem Geist gezeugt und von einer Jungfrau geboren und später gekreuzigt und wieder auferstanden und danach in den Himmel aufgefahren sein soll, haben neben der christlichen auch viele andere Kulte, Religionen, Religiönchen und sonstigen Sekten zu bieten; außerdem hat der christliche Jesus inhaltlich nichts mit der historischen Gestalt Jesus von Nazareth zu tun.) und wenn man weiterhin unterstellt, dass er gekreuzigt wurde, so ist es ausgeschlossen, dass Jesus „die Ohnmacht des Todes überwunden“ haben kann, weil es natürlich und naturbedingt ausgeschlossen ist, dass ein Mensch, der tatsächlich tot war, wieder aufersteht (selbst wenn er sich als Sohn Gottes ausgegeben oder gefühlt hätte, was für einen jüdischen Wanderprediger äußerst unwahrscheinlich gewesen wäre). Bei Zweifeln an der Endgültigkeit des Todes ziehen Sie bitte den aktuellen Stand der Medizinwissenschaft zu Rate.

Über das alles war sich Jesus aber selbst nicht mehr bewusst, auch er war verzweifelt.*

Was nicht weiter verwundert, wenn man kurz davor ist, am Kreuz zu sterben. Wäre er tatsächlich, wie später behauptet, nicht nur Sohn, sondern sogar ein Teil der göttlichen Dreieinigkeit, hätte er ja wissen müssen, was ihm bevorstand und dass es sich dabei um die notwendige Erfüllung einer Prophezeiung handelt. Da er sich selbst aber eben nicht so sah (er war ein jüdischer Wanderprediger und apokalyptischer Prophet wie viele andere zu dieser Zeit), ist seine Verzweiflung mehr als verständlich.

Aber dann hat doch der Glaube gesiegt.*

Nein. Jesus ist gestorben, jedenfalls wenn man dem Mythos Glauben schenkt. Nicht der Glaube, sondern der Determinismus hat gesiegt. Der Tod ist die notwendige Folge des Lebens. Auch durch das archaische Märchen einer real nicht möglichen Auferstehung ändert sich daran nichts. Die Behauptung, der (welcher und wessen eigentlich ?) „Glaube“ habe „gesiegt“ (inwiefern? worüber?), ist eine beliebige Behauptung, die jeder sachlichen Grundlage entbehrt.

Der Glaube darüber, dass die schlimmen, einengenden Gefühle, die uns das Leben nehmen, nicht die Oberhand am Ende haben.*

Wenn uns schlimme, einengende Gefühle „das Leben nehmen,“ dann ist es sicher eine gute Idee, professionelle psychologische und/oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.  Bei Jesus waren es vermutlich weniger „schlimme, einengende Gefühle“, sondern die Tatsache, dass ein menschlicher Körper eine solche Todesfolter nur eine bestimmte Zeitlang aushalten kann.

Das Gute siegt doch, vielleicht nicht sofort, aber irgendwann.*

Wie hoffnungslos naiv und sogar unsinnig dieser Glaube ist wird schnell deutlich, wenn man sich klar wird, dass es „das Gute“ nicht gibt. Wer sagt denn, was „gut“ und was „böse“ ist? Finden Sie Selbstmordattentate gut? Attentäter schon, die finden dafür Rockkonzerte „böse“.

Einen Kampf „Gut“ gegen „Böse“ ist natürlich ein beliebtes Motiv in Märchen und anderen Fiktionen wie Star Wars™ oder Harry Potter™ – und natürlich auch von großer Bedeutung für Religionen, die durch ihre individuelle Festlegung von „Gut“ und „Böse“ für Feindbilder und Abgrenzung sorgen, um ihre eigene Macht zu stärken und Andersgläubige mit gutem Gewissen zu ermorden.

In der Wirklichkeit sind „Gut“ und „Böse“ beliebige Definitionen, mit denen Menschen entsprechend ihrer Wertevorstellung Verhalten oder Ereignisse mitunter höchst unterschiedlich bewerten. Was ist denn Ihrer Meinung nach „das Gute“? Und wäre „das Gute“ nicht erst dann „das Gute“, wenn es nicht irgendwann, sondern sofort über „das Böse“ siegen würde?!

Wer eine solche Aussage äußert und sie wirklich ernst meint, dem sei dringend zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit Thema „Determinismus“ ans Herz gelegt, um sich von solchen lächerlichen, einfältigen Wunschgedanken schnell und schmerzlos verabschieden zu können.

Dieser Originalartikel ist ein weiteres eindrucksvolles Beispiel dafür, wie religiöse Indoktrination Menschen – pardon – verdummt. Und es zeigt sich immer wieder, wie fatal die Auswirkungen sind, wenn Menschen wirklich glauben, dass „das Gute“ „irgendwann“ doch „siegen“ würde, besonders dann, wenn sie sich dem „Guten“ zugehörig fühlen. Die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich an den „guten“, also „richtigen“ Gott zu glauben ist, ist bei mindestens 3000 Göttern, die sich die Menschheit schon ausgedacht hat, schon rein mathematisch äußerst gering.

*Unter der Rubrik „NACHGEDACHT“ fordert Osthessennews jede Woche zum Nachdenken auf. Die Zitate stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Original-Artikel von Christina Leinweber.

**“Diamonds on the Soles of Her Shoes“ von Paul Simon aus dem Album „Graceland“ (1986), veröffentlicht von Warner Bros. Records

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