Kommentar zu NACHGEDACHT 99: In Gedenken an Tugce

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Kommentar zu NACHGEDACHT 99: In Gedenken an Tugce, Originalartikel verfasst von Christina Leinweber, veröffentlicht am 30.11.2014 von osthessen-news.de

[…] Theologisch betrachtet wird es sogar noch dramatischer: Tugce stand in der Nachfolge Jesu. Nachfolge Jesu bedeutet, dem Nächsten helfen, für ihn eintreten. Wir Christen glauben daran, dass sich Gott in jeder Zuwendung, in jeder Liebeshandlung offenbart. Tugce hat geholfen, hat quasi göttlich gehandelt und wurde getötet. Überspitzt gesagt bedeutet das: Es hat sich verdammt noch mal in 2000 Jahren nichts geändert. Es ist immer noch genau so – das Gute wird getötet.*

Ganz unüberspitzt gesagt: Zum großen Glück für die Menschheit hat sich verdammt noch mal in 2000 Jahren sehr wohl sehr vieles geändert. Zum Beispiel werden seit einigen Jahren nicht mehr ganz so viele Menschen im Namen und Auftrag zumindest Ihres Gottes (also der „Gute“) vertrieben, verleumdet, vergewaltigt oder ermordet.

Einmal mehr beleidigen Sie die Menschheit (in diesem Fall perfiderweise das Mordopfer), indem Sie behaupten, sie habe „quasi göttlich“ gehandelt. Sie hat nicht göttlich, sondern, ganz im Gegenteil, menschlich gehandelt, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen oder können.

Ihre wirklich unerträgliche Arroganz, selbstgerecht festlegen zu wollen, wer oder was Gut, und wer oder was Böse ist, kommt hier einmal mehr deutlich zum Vorschein. Natürlich wird jeder halbwegs aufgeklärte, klar denkende Mensch erstmal im vorliegenden Fall das Ofer als „das Gute“ und den Mörder als „das Böse“ identifizieren. Da „Gut“ und „Böse“ aber keine allgemeingültigen, für alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Glaube, Wohnort, Hautfarbe und Gruppenzugehörigkeit verbindlichen Größen, sondern mehr oder weniger individuelle Festlegungen von Menschen sind, ist es blanker Unsinn zu behaupten, dass „es immer noch genauso“ sei, dass das „Gute“ getötet wird.

Das wird schnell deutlich, wenn man sich die Beteiligten an einem religiös motivieren Selbstmordattentat vor Augen führt. Gerade die Christen haben so gar keinen Grund, sich als „die Guten“ zu fühlen, wie ein kurzer Blick in die Kriminalgeschichte des Christentums auf erschütternde Weise und mit ungezählten Toten belegt.

In Wirklichkeit ist natürlich nichts und niemand „das Gute“ oder „das Böse“, wie es die Autorin gerne hätte, weil ihre religiöse Indoktrination ihr diesen Dualismus so vorgibt. In Wirklichkeit können sich Menschen fair, aber auch unfair verhalten. Auch wenn es zunächst schwerfallen könnte, einen Mörder „nur“ als „unfair“ oder „unethisch“ zu bezeichnen, ist das trotzdem richtiger und zutreffender, als ihn als „das Böse“ zu identifizieren.

Das rechtfertigt keineswegs dieses Verhalten, aber nicht, weil der Mörder „böse“ und das Opfer „gut“ war, sondern weil es den allermeisten Fällen höchst unethisch ist, einen Menschen umzubringen. Auch die Entscheidung für den Mord (bzw. das Nicht-Entscheiden für einen Abbruch des Angriffes) ist die Folge einer komplexen Kette von Ursachen und Wirkungen im Hirn des Täters. Welche Ursachen das genau waren, wird sich nicht ermitteln lassen. Nochmal: Diese Tat ist mit nichts zu rechtfertigen und auch in keinster Weise zu relativieren, nur handelt es sich dabei nicht um „gut“ und „böse“, sondern um „ethisch“ und „unethisch“, auch wenn das nicht ins religiöse Gut-Böse-Schema passt.

Um „Böse“ sein zu können, wäre es Voraussetzung, dass sich ein Mensch aus freiem Willen, also gegen die Prägung seines Unterbewusstseins für „das Böse“ entscheiden könnte. Ein Mensch kann sich allerdings nur so entscheiden, wie ihm die Prägung seines Unterbewusstseins es ermöglicht. Dieser Umstand war zu der Zeit, als die Religionsführer festlegten, was „Gut“ (die Anhänger ihrer Religion) und was „Böse“ (alle anderen) ist, noch nicht bekannt, was den gewaltigen Fehlschluss zwar erklären, aber keineswegs heute mehr rechtfertigen kann.

Umso deutlicher wird jetzt: Wir brauchen jedes Jahr aufs Neue Gottes symbolisches Kommen in die Welt, Weihnachten ist jedes Jahr wichtig für uns, weil wir scheinbar nicht lernen. Wir müssen jedes Jahr versuchen, Gott in unsere Häuser und Herzen zu lassen, damit Menschen wie Tugce nicht sterben müssen, damit wir alle dem Nächsten dienen und immer mächtiger gegen das Böse in der Welt werden.*

Umso deutlicher wird Jetzt: Wir brauchen endlich die Befreiung von der fixen Idee eines Gottes, in dessen angeblichem Auftrag Menschen nach ihren eigenen Vorstellungen und Werten die Welt in „gut“ und „böse“ einteilen. Weihnachten ist jedes Jahr schädlich für uns, wenn dabei das Gedankengut und das antiquierte Wertebild, das auf vormittelalterlichen Mythen und Märchen lange vor Erfindung von Menschenrechten und Grundgesetzen basiert, weitergegeben und zelebriert werden.

Wir müssen jedes Jahr (und jeden Tag) versuchen, uns von der fixen Idee der Existenz und des Einflusses eines fiktiven Gottes zu verabschieden und anfangen, selbstverantwortlich, ethisch und menschlich zu denken und zu handeln, damit wir nicht länger von den schädlichen religiösen Einflüssen in unserer Entscheidungsfähigkeit vergiftet werden. Dann können wir erkennen, wie komplett sinnfrei, überheblich und frei von jeder menschlichen Vernunft eine Aussage ausgerechnet einer Christin ist, „immer mächtiger gegen das Böse in der Welt“ werden zu wollen. Das sehen die Anhänger eines anderen Gottes nämlich ganz genauso, und zumindest ich finde Selbstmordattentate höchst unethisch.

*Das Online-Portal Osthessennews fordert jede Woche unter der Rubrik „NACHGEDACHT“ mit „liberal-theologischen“ Gedanken zum Nachdenken auf. Alle Zitate stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Original-Artikel von Christina Leinweber.

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