Kommentar zu NACHGEDACHT 105: Schuldig in allen Belangen, Original-Artikel verfasst von Christina Leinweber, veröffentlicht am 11.1.2015 von osthessen-news.de
[…] Der Mehrteiler behandelte die Entwicklung eines kleinen Dorfes: Von den ersten Stunden nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Mauerbau durfte der Zuschauer die schreckliche Geschichte nachempfinden, die unser Land gezeichnet hat.
Mir wurde oft speiübel – barbarische Verhältnisse unter Menschen. Grausame Tötungen. Und leider stammte die Idee des Films nicht aus der reinen Fiktion, sondern aus der Realität von vor siebzig Jahren. Als ich das Thema zum ersten Mal im Unterricht behandelt hatte, habe ich mich wirklich gefragt, wie Menschen hier bleiben konnten und einfach auf diesem Boden weiter gelebt haben. Unser Lehrer hat auf die Frage geantwortet: „Dann müsse man die ganze Welt verlassen, jeder Fleck Erde wurde schon mit Blut getränkt.“ Weise Worte.*
Wenn man ehrlich und objektiv ist, darf man in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass ein Großteil dieses Blutbades seit Bestehen der Menschheit von religiös motivierten Menschen angerichtet wurde und wird.
Hierbei fallen die Parallelen zwischen religiösen und politischen Ideologien deutlich auf: In beiden gibt es einen übergeordneten Führer, der dogmatisch festlegt, wer bzw. was Gut und Böse ist. Beide leben von Menschen, die bereitwillig auf das jeweilige Heilsversprechen hereinfallen und bereit sind, dafür praktisch alles kritiklos hinzunehmen, was ihnen aufoktroyiert wird.
Diese Übereinstimmung ist sicher kein Zufall, sondern ein bewährtes Mittel, um Menschen dazu zu bringen, andere Menschen mit reinem Gewissen zu ermorden, egal ob im Namen des Herren oder im Namen eines Führers.
Ob man will oder nicht, das Sprichwort vom Stein, den man nicht werfen sollte, wenn man im Glashaus sitzt, kommt einem unweigerlich in den Sinn, wenn eine Religionsanhängerin über Kriege schreibt, ohne dabei die umfangreiche und jahrhundertelange Beteiligung ihrer eigenen Religion auch nur mit einer Silbe zu erwähnen.
Im Zusammenhang mit diesem Film ist ein Zitat gefallen: „Untilgbare Schuld.“ Ja, ich glaube, was damals geschah, kann niemals wieder gut gemacht werden. Schuldig in allen Belangen.*
Schuldig nach wessen Maßstäben und nach wessen Werten? Wie soll eine „Schuld“ tilgbar sein, wenn ein Mensch gar nicht über die Willensfreiheit verfügt, sich „schuldig“ zu machen? Sehr wohl hat er die Handlungsfreiheit, sich unethisch zu verhalten. Dieser Umstand legitimiert keinesfalls unethisches Verhalten. Wer sich unethisch verhält, das heißt, wer gleichberechtigte Interessen anderer Individuen beeinträchtigt, vor dem muss die Gesellschaft geschützt werden.
Wir Menschen heute müssen damit leben, dass wir die Erben solcher Gewalt sind.*
Nein, müssen wir nicht grundsätzlich. Allerdings müssen zum Beispiel Sie damit leben, dass im Namen und Auftrag Ihres Gottes unzählige Menschen mit der Todesweihe bedacht wurden, nur weil sie sich weigerten, an Ihren Gott zu glauben oder weil sie sich gar erdreisteten, an einen anderen Gott zu glauben.
Und noch viel schlimmer: Die Gewalt hat seitdem lange noch kein Ende genommen. Sie geht weiter. Die Welt ist kein schönerer Ort siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geworden.*
Das kann man so pauschal nicht sagen. Natürlich gibt es auch 70 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg noch unfassbar viel Leid und Krieg auf der Erde, allerdings gibt es im wesentlich größeren Teil der Welt eben auch hervorragende, friedliche Lebensbedingungen für Mensch und Tier.
Gerade für jemand, der bzw. die ausschließlich in dieser bislang friedlichen Zeit gelebt hat, ist eine solche Aussage eine Farce und ein widerlicher Zynismus denen gegenüber, die tatsächlich unter Krieg zu leiden haben. Gerade Europa ist genau in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich ein schönerer Ort geworden, jedenfalls in der realen Welt, die man wahrnehmen und erleben kann, wenn man vor die Kirchentür tritt.
Und woran liegt das? Warum ist der Mensch böse und nicht nur gut? Darauf gibt es womöglich keine befriedigende Antwort.*
Das liegt nicht daran, dass Menschen „böse“ oder „gut“ sind – diese Eigenschaften können nach Belieben komplett unterschiedlich definiert werden. Die Antwort, ob befriedigend oder nicht, ist, dass sich Menschen unfair gegenüber anderen verhalten, also ihre eigenen Interessen über die gleichberechtigten Interessen anderer Menschen stellen.
Allerdings gibt es Erklärungsmodelle. Einen Ansatz, die böse Seite des Menschen zu verstehen, möchte ich Ihnen nächste Woche näher erläutern.*
Der Mensch hat keine „böse Seite,“ und wenn Sie es noch 100 Mal schreiben, wird diese Aussage dadurch auch nicht richtiger.
Bis dahin entlasse ich Sie mit dem Gedanken daran, dass der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz einmal sagte: „Wir leben in der besten aller möglichen Welten.“ Hoffentlich hat er Recht.*
Natürlich hat er Recht, schon allein deshalb, weil uns nur diese Welt zur Verfügung steht und es maßgeblich von unserem menschlichen Verhalten abhängt, wie fair es auf dieser Welt zugeht.
*Das Online-Portal osthessennews.de fordert jede Woche unter der Rubrik „NACHGEDACHT“ mit „liberal-theologischen“ Gedanken zum Nachdenken auf. Alle Zitate stammen aus dem oben genannten und verlinkten Beitrag.
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