Das Wort zum Wort zum Sonntag: Wutbürger

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Das Wort zum Wort zum Sonntag: Wutbürger, gesprochen von Annette Behnken (ev.), veröffentlicht am 4.6.2016 von ARD/daserste.de

[…] Meine Freiheit hört da auf, wo sie die Freiheit und Würde eines anderen verletzt. Oder anders: Du sollst deinen Nächsten lieben, auch wenn Du wütend bist.

Das christlich-biblische Gebot der Nächstenliebe bezieht sich ausschließlich auf die Nächsten, also die Angehörigen der eigenen Gruppe, auf die Mitgläubigen – und nicht etwa auf die gesamte Menschheit. Deshalb ist auch nur von den Nächsten die Rede und nicht etwa von allen.

Da es aber auch sowieso ziemlich unrealistisch ist, alle Menschen zu lieben und da die meisten Probleme gar nicht zwischen den Nächsten (denen man ja meist sowieso schon mehr verbunden ist als den anderen) bestehen, ist es an der Zeit, dieses Gebot aus der Bronzezeit zu aktualisieren, zum Beispiel mit dem 2. der 10 (An-)Gebote des evolutionären Humanismus:

  • Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten!
    Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.

    (Quelle)

Erscheint dieses Angebot nicht viel realistischer und sinnvoller, als ein sowieso meist falsch gedeutetes Gebot, das für das Zusammenleben eines primitiven Wüstenstammes der Bronzezeit konzipiert worden war und bei dem nicht etwa die Würde des Menschen, sondern ein imaginärer und zudem auch noch ausgesprochen inhumaner Gott an oberster Stelle steht?

[…] Die Wut wird blind. Und damit pauschal und polemisch. Die Asylanten, die Politik, die Lügenpresse, die da oben – so sprechen Wutbürger.

Oder Fuldas Bischof Algermissen, wenn er zum Beispiel in seiner diesjährigen Osterpredigt „Menschen ohne Auferstehungsglauben“ als „große Gefahr für die Mitwelt“ beschimpft.

Aber nur das hilft: Aufhören und hinsehen, statt blind werden: Was steckt hinter meiner Wut und hinter der des anderen?

Ein Hauptgrund für Wut von religiös indoktrinierten Menschen ist sehr oft ein Effekt, der als „kognitive Dissonanz“ bezeichnet wird. Dieser Effekt tritt dann auf, wenn Menschen mit religiösem Glauben mit der Realität konfrontiert werden und ihnen die Differenz zwischen religiösem Wunsch und realer Wirklichkeit zu schaffen macht.

Das führt dann schon mal zu Beleidigungen und Beschimpfungen durch wutentbrannte Christen oder auch dazu, dass Leute, die eigentlich dafür bezahlt werden, auf der Webseite fragen.evangelisch.de Fragen zum Thema Glauben zu beantworten, kritische Fragen ignorieren und kritische Beiträge nicht veröffentlichen, selbst wenn diese absolut sachlich und respektvoll formuliert sind. „Aufhören und hinsehen, statt blind werden:“ – Ein geheucheltes Lippenbekenntnis.

Du sollst deinen Nächsten lieben, auch wenn du wütend bist. Oder, wie es in der Bibel heisst: : „Zürnt ihr, so sündigt nicht“ -und dann als goldene Regel – „lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.“

Das Christentum hat sich auch in diesem Bereich die Wirklichkeit so zurechtgebogen, wie sie ihm gefällt. Da gibts dann auf einmal einen „heiligen Zorn“, der natürlich völlig in Ordnung geht, weil ja schließlich Jesus auch zornig war, als er im Tempel zu Jerusalem randalierte.

Aller anderer Zorn sei dann „des Teufels“ – und schon ist die kleine, schwarz-weiß-dualistische Gut-Böse-Christenwelt wieder stimmig, die Rollen klar verteilt: Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen. Unser Zorn ist gerechtfertigt, der Zorn der anderen nicht.

Dass sich die biblischen Aufrufe zur Nächstenliebe eben ausdrücklich nicht auf alle Menschen, sondern nur auf die Zugehörigen der eigenen Gruppe beziehen, hatte ich weiter oben schon erwähnt.

Dies lässt sich in jeder Bibel leicht selbst nachprüfen, wenn man sich zum Beispiel den Text, aus dem Frau Behnken die Verse für ihre heutige Verkündigung gezielt herausgepickt hat, mal näher anschaut. Da steht dann zum Beispiel (Hervorhebung von mir):

  •  Legt deshalb die Lüge ab und redet untereinander die Wahrheit; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden.
    (Quelle: Eph 4:25 EU)
    **
  • Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse verbannt aus eurer Mitte!
    Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.
    (Quelle: Eph 4:31-32 EU)

Mit keinem Wort ist die Rede davon, dass diese Anweisungen auch außerhalb der angesprochenen Gemeinschaft gelten sollen. Wie mit Un- und Andersgläubigen zu verfahren sei, wird in der Bibel detailliert beschrieben, mit Nächsten- oder sonstiger Liebe hat das dann allerdings nichts mehr zu tun, im Gegenteil.

Nicht etwa aus Respekt vor den Mitmenschen, sondern weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat, sollen sich die Menschen anständig verhalten? Und warum sollten sich dann Menschen, die nicht an diesen Gott und die Wirksamkeit seines angeblichen Menschenopfers zu seiner eigenen Befriedigung glauben, anständig verhalten?

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es um das Welt- und Wertebild der damaligen Zeit bestellt war, lohnt es sich, einfach mal noch etwas weiterzulesen im Epheserbrief. Nur wenige Zeilen nach der ausgewählten Stelle steht da zum Beispiel (Hervorhebungen von mir):

  • Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen.
    (Quelle: Eph 5:22-24 EU)

Zufall? Genauso gezielt so herausgepickt? Nein. Die Belege dafür, dass die biblischen Texte in ihrer beiweitem überwiegenden Gesamtaussage aus heutiger Sicht inhuman und für unsere heutige Zeit schlicht bedeutungslos sind, lassen sich quasi beliebig vermehren:

  • Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus. Arbeitet nicht nur, um euch bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes!
    (Quelle: Eph 6:5-6 EU)

Woher kann Frau Behnken wissen, dass ihre Verse gelten, diese aber nicht mehr? Natürlich ist es wichtig, sinnvoll und dringend erforderlich, sich mit den Herausforderungen der heutigen Zeit auseinanderzusetzen und an Lösungen der vielfältigen Probleme zu arbeiten.

Ausgerechnet eine vormittelalterliche Mythen- und Märchensammlung mit katastrophaler Moralbilanz als Grundlage dafür verwenden zu wollen, erscheint geradezu absurd – was Frau Behnken nicht davon abhält, genau das zu tun und auf reale Probleme mit höchst selektiv herausgepickten, irrealen biblischen „Weisheiten“ zu reagieren und diese auf Kosten aller Bürger, auch derer, die nicht an ihren christlichen Wüstengott glauben, im öffentlich-rechtlichen (!) Rundfunk zu verkündigen, weil sich die Kirche in einem Vertrag mit Adolf Hitler das Recht dazu gesichert hatte.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Artikel.
** Bibelzitate mit der Angabe EU stammen aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

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