Aufrechter Gang – Das Wort zum Wort zum Sonntag über Martin Luther King

Lesezeit: ~ 7 Min.

Aufrechter Gang – Das Wort zum Wort zum Sonntag über Martin Luther King von Alfred Buß (ev.), veröffentlicht am 20.10.2018 von ARD/daserste.de

[…] Laufen lernte ich früh. Den aufrechten Gang aber muss ich immer noch üben: Nicht stumm bleiben, wenn Menschen auf offener Straße beleidigt werden, nicht untätig verharren, wenn sie bedroht werden oder gar drangsaliert. Dazu muss ich mich aufraffen, immer wieder neu.*

Tun Sie das, Herr Buß! In Ihrem eigenen, und im Interesse Ihrer Mitmenschen. Die Welt braucht aufrechte Menschen. Viel Erfolg!

Gehört Mitmenschlichkeit zum Zentrum des christlichen Glaubens?

Dabei habe ich schon beim Laufenlernen erfahren, dass füreinander Einstehen zum Menschsein gehört. Und zum Zentrum des christlichen Glaubens.

Ja, man kann nicht früh genug anfangen mit der religiösen Indoktrination. Wenn jemand vom Krabbelalter an erzählt bekommt, dass etwas „zum Zentrum des christlichen Glaubens“ gehört, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er das womöglich ein Leben lang glaubt. Und so hatte offenbar auch Herr Buß ein bestimmtes Verhalten von Anfang an als Merkmal christlichen Glaubens vermittelt bekommen.

Nun könnte man argumentieren: „Ist doch egal, warum sich jemand altruistisch verhält.“ Das sehe ich anders. Denn wer Mitmenschlichkeit zu einer typisch christlichen Eigenschaft erklärt, der könnte leicht auf die Idee kommen, die christliche Lehre sei womöglich Voraussetzung für solches Verhalten. Oder auch, dass Menschen, die nicht dem christlichen Glauben angehören, deswegen womöglich weniger mitmenschlich sein könnten.

Und natürlich bedeutet die Mitgliedschaft in der christlichen Glaubensgemeinschaft noch längst nicht, dass sich Christen deswegen mitmenschlicher verhalten als andere.

Mit der Religion kommt hier eine Begründung ins Spiel, die für praktisch jedes beliebige Verhalten instrumentalisiert werden kann. Was die Kriminalgeschichte des Christentums erschreckend eindrucksvoll beweist.

Aber gehört füreinander Einstehen tatsächlich zum Zentrum christlichen Glaubens?

Die Legende vom barmherzigen Samariter

Lack of empathyGeht man von der biblischen Grundlage aus, dann beschränkt sich das füreinander Einstehen in erster Linie auf die Zugehörigen innerhalb der Glaubensgemeinschaft.

Und betrachtet man das Verhalten der christlichen Kirche, so fällt auf:  Diese steht hauptsächlich für sich selbst ein. Sie pflegt ihr Image, ein selbstloser Hilfsverein zu sein. Dass die kirchliche Nächstenliebe jedoch in Wirklichkeit vorrangig ein profitables Geschäft eines Milliardenkonzerns ist, verschweigt sie gerne.

Genauso wie den Umstand, dass sie zwar immer gerne ihr mitmenschliches Image zur Schau stellt. Während sie sich aber vornehm zurückhält, sobald es um die Kostenübernahme geht. Die christlichen Kirchen betreiben ihr Milliardengeschäft unter dem Deckmäntelchen der Nächstenliebe.

[…] Samariter waren in den Augen der Juden damals Sektierer, Angehörige einer verachteten Religion. Wer von diesen Dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? fragte Jesus seinen jüdischen Glaubensgenossen. Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Die erst und nur im Lukasevangelium eingefügte Bibelstelle vom barmherzigen Samariter präsentieren Religionsverkünder immer wieder gerne, wenn es darum geht, die Legende von der christlichen Barmherzigkeit aufrecht zu erhalten. Einige Gedanken dazu hatte ich bereits in diesem Artikel aufgeschrieben und spare mir deshalb hier die Wiederholung.

Aufklärung statt Drohungen

Christentum retten stand jüngst auf Plakaten im bayerischen Wahlkampf. Diese Parole hetzt gegen Muslime und diffamiert Menschen, die heute unter die Räuber fallen. Erzählst du die Samariter-Geschichte in solchem Kontext, bekommst du jetzt Hassmails und Drohungen.

Nicht so bei AWQ! Da bekommst du lediglich den Hinweis auf eine andere Bibelstelle. Eine, in der der biblische Romanheld Jesus Christus seinen Followern anordnet, die Samariter zu meiden:

  • Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. (Mt 10, 5-7 LUT)

Die Bibel ist eben wie eine Tüte Color-Rado®. Da ist für jeden was dabei.

Außerdem bekommst du noch diesen Hinweis: Um wissen zu können, wie du dich verhalten solltest, brauchst du keine Religion. Gerade die Lehren monotheistischer Religionen sind als moralischer Kompass für die Menschheit im 21. Jahrhundert nicht geeignet.

Martin Luther King

Jesus wurde damals gekreuzigt. Und erschossen wurde Martin Luther King vor nunmehr 50 Jahren – Pastor, Bürgerrechtler und Vorbild im aufrechten Gang. Alle Menschen leben in einem großen „Haus der Welt“, rief er aus. „Überwindet die Schranken von Hautfarbe, Klasse, Nation und Religion! Beseitigt das dreifache Übel von Rassismus, Armut und Militarismus! Leistet Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit. Überwindet Gewalt!“

Martin Luther KingKaum erstaunlich, dass ein Pastor die Religion nicht als viertes Übel den anderen genannten zugeordnet hatte.

Selbst wenn heute dank Aufklärung und Säkularisierung viele Christen ihre Religion so interpretieren, dass ihr Standpunkt mehr oder weniger zu einer humanistisch-altruistischen Einstellung passt, bergen gerade die monotheistischen Religionen immer noch viele Risiken. Allem voran die Beliebigkeit der zugrunde liegenden „Heiligen Schriften.“

Gerade die in der Bibel oft verwendeten Gleichnisse lassen immer viel Spielraum für Interpretation. Meinte der biblische Romanheld Jesus mit seinem Samariter-Gleichnis, dass die religiöse Zugehörigkeit eines Menschen tatsächlich für Gottes Urteil keine Rolle spielt? Sondern nur sein Verhalten den Mitmenschen gegenüber? Oder ist es doch so, wie es die biblische Gesamtaussage behauptet (Mk 16,16)?

Schon allein über diese Frage herrscht sogar innerhalb der christlichen Konfessionen alles andere als Einigkeit. Trotz Jahrhunderten theologischer Bemühungen.

Rückschritt statt Fortschritt

Heute noch fataler als solche theologisch-apologetischen Differenzen (die dem gewöhnlichen Durchschnittsgläubigen meist reichlich egal sein dürften) ist der abgrenzende Aspekt von Religionen.

Aktuelles Beispiel: Nachdem der blutige Dauerkonflikt zwischen evangelischen und katholischen Christen in Nordirland endlich überwunden war, befürchten die Iren durch den drohenden Brexit nun auch wieder ein Aufkeimen dieser religiös bedingten Abgrenzung. Katholisch gegen Evangelisch. Hier spielt das unterschiedliche Verständnis religiöser Texte gar keine Rolle mehr. Sondern nur noch die konfessionelle Zugehörigkeit: Wir, die Guten – Ihr, die Bösen. Und natürlich umgekehrt.

Insofern klingt der Aufruf von Martin Luther King, auch die Schranken der Religion zu überwinden geradezu fortschrittlich. Dem widerspricht allerdings sein Vertrauen und seine Hoffnung darauf, dass der Wille seines Gottes „wie im Himmel, so auf Erden“ geschehen möge, wie wir gleich noch sehen werden.

I have a dream…

Darüber, was aus den Träumen von Martin Luther King geworden ist, wird viel diskutiert. Vieles hat sich tatsächlich mehr verbessert, was einem oft erst bewusst wird, wenn man sich die Entwicklungen über längere Zeiträume hinweg betrachtet. Umgekehrt bestehen viele der Probleme, die Martin Luther King damals kritisiert hatte, auch heute noch.

Festzuhalten ist, dass sich diejenigen, die heute zum Beispiel die Diskriminierung von Menschen anderer Hautfarbe befördern, auf die selbe Lehre berufen wie der Bürgerrechtler damals:

  • Das Narrativ vom Unterschied der Rassen habe sich so tief in das Bewusstsein eingegraben, dass es bis heute seine Wirkung entfalte. Mit diesem Argument des biologischen Unterschieds zwischen Weißen und Farbigen sei die Sklaverei gerechtfertigt worden. Diese Haltung liefere bis heute die ideologische Basis für den Glauben an eine „weiße Überlegenheit“, wie sie die rechtsextreme Alt-Right-Bewegung propagiert, die Oberwasser hat, seit Donald Trump Präsident ist. (Bryan Stevenson, Juraprofessor an der New York University School of Law und Gründer des Equal Justice Instituts, zit. n. deutschlandfunk.de: Thilo Kößler: 50 Jahre nach dem Tod von Martin Luther King – Jeder Traum hat seine Zeit )

Über die Alt-Right-Bewegung schreibt Wikipedia:

  • Im Zentrum steht die rassistisch, islamfeindlich und antisemitisch begründete Annahme, dass die „Identität der weißen christlichen Bevölkerung“ von der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft der USA sowie einer „politischen Korrektheit“ und Gesetzen zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit bedroht sei und gegen diese verteidigt werden müsse. (Quelle: Wikipedia)

Was besagt es über eine Lehre, wenn sie für zwei völlig gegensätzliche Standpunkte instrumentalisiert werden kann? Das kommt davon, wenn man sich auf religiöse Mythologie beruft…

Ewiges Leben: Irrelevant

Jetzt stellt sich die Frage, inwieweit Religionen bisher dazu beigetragen haben, die Welt friedlicher und gerechter zu machen. Dabei fällt auf, dass (bis auf wenige Ausnahmen) die Gesellschaften, in denen die Kirche den geringsten Einfluss hat, die sind, in denen die Menschen die meiste Freiheit und den meisten Wohlstand genießen dürfen. Umgekehrt wächst die Kirche gerade in den Teilen der Erde, in denen das nicht der Fall ist.

Würden sich diejenigen, die aus ihrem Glauben heraus mitmenschlich und fair handeln von ihrer Einbildung einer göttlichen Belohnung und einer Angst vor göttlicher Bestrafung befreien und sich stattdessen einfach der Mitmenschen wegen für diese einsetzen, würden sie mit ihrem fraglos positiven Verhalten nicht nebenbei noch auch eine Ideologie künstlich am Leben erhalten, die eben auch zur „Begründung“ völlig gegenteiliger Zwecke verwendet werden kann.

Die Frage ist heute nicht mehr: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? (Lk 10,25 LUT)“, sondern: Wie kann ich dazu beitragen, dass der Lebensraum Erde im Diesseits friedlicher, fairer und gesünder wird?

Kings Aktionen waren strikt gewaltfrei. „Der Geist stammt von Jesus, sagte er, „die Methoden von Gandhi“.

Von wem er sich zu seiner mehrfach belegten Heuchelei, zum Beispiel in Bezug auf seine sexuellen Eskapaden hatte inspirieren lassen, hatte Martin Luther King nicht verraten.

Dein Reich komme? …lieber nicht

[…] Doch – wie sähe diese Welt aus ohne solche Träumer mit aufrechtem Gang?

Sicher anders. Ein aufrechter Gang ist jedoch nicht an ein bestimmtes (oder irgendein) religiöses Bekenntnis gebunden. Martin Luther King ist ein Beispiel dafür, dass man selbst in eine so unmenschliche Lehre wie die christliche Gerechtigkeit und Friede hineininterpretieren kann.

Martin Luther King vertraute fest darauf, dass wahr wird, was Jesus uns zu bitten lehrte: Vater unser… dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden… Auf dass am Ende nicht die Mörder triumphieren, sondern Frieden und Gerechtigkeit sich küssen.

Es ist Sache der Menschen, selbst dafür zu sorgen, dass „Frieden und Gerechtigkeit sich küssen.“ Das in der Bibel beschriebene „göttliche Reich“ sieht hingegen anders aus: Da werden die belohnt, die bereit sind, sich diesem Gott unterzuordnen. Und die bestraft, die das zu Lebzeiten nicht getan haben (Mk 16,16). Hier küsst sich ein selbstverliebter, eifersüchtiger Gott selbst.

Wäre es einem allmächtigen allgütigen Gott ein Anliegen, dass die Welt ein friedlicher und gerechter Ort ist, dann wäre es für ihn ein Kinderspiel, dafür zu sorgen. Wenn er stattdessen seine Schöpfung so gestaltet, dass sie sich eben nicht ausschließlich friedlich und gerecht verhält, dann braucht er sich nicht zu beschweren. Und er hat kein Recht, Menschen für irgendetwas zu bestrafen.

Die christliche Mythologie impliziert so viele Widersprüche und so viel Beliebigkeit, dass sie schon allein deshalb als brauchbare Grundlage für ethische Standards ausscheidet.

Dazu kommt, dass Christen ja einen Exklusiv-Anspruch auf Wahrheit erheben: Ausschließlich nur durch ihren Gott (wahlweise auch dessen Sohn oder 2. Drittel) können Menschen auf einen grünen Zweig kommen. Wenn überhaupt. Eine solche Verstellung stellt eine Schranke dar. Zu deren Überwindung Martin Luther King ja eigentlich aufgerufen hatte.

Worauf es wirklich ankommt…

Letztlich kommt es darauf an, wie sich Menschen verhalten. Und nicht der Glaube an ein fiktives göttliches Reich, wie es Herr Buß bei Martin Luther King vermutet. Für die Mitlebewesen spielt es keine Rolle, welche Konsequenzen Handlungen Gläubiger ihrer Vorstellung zufolge in ihren religiösen Scheinwirklichkeiten zur Folge haben.

Was mit Religionen passiert, wenn sie anfangen, ihre Schranken zu überwinden, kann man gerade an der evangelischen Kirche beobachten: Der fundamentalistische Kern wird noch fundamentalistischer. Und der große Rest löst sich mehr oder weniger in Wohlgefallen auf.

Je weiter sich Gläubige von den meisten ihrer Glaubensgrundlagen befreien, desto besser lassen sie sich in eine offene und freie Gesellschaft integrieren. Und umgekehrt: Je strikter sich Menschen an ihre jeweiligen (monotheistischen) Glaubenslehren (aber natürlich auch vergleichbare politische Ideologien) halten, desto größer werden die Schranken. Und tiefer die Gräben.

*Die als Zitat gekennzeichneten Abschnitte stammen aus dem eingangs genannten und verlinkten Originalbeitrag über den „aufrechten Gang“ und Martin Luther King.

 

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