Religiöse Musikalität?

Lesezeit: ~ 2 Min.

In einem Facebook-Beitrag* hatte Jori Wehner einige Gedanken zu der Aussage zusammengefasst, dass Atheisten eben keine religiöse Musikalität besitzen würden:

Das habe ich in ähnlicher Form oft gelesen:

  • „Atheisten haben eine verkürzte Perspektive ohne Sinn für das Transzendente. Sie können sich einfach eine transzendente Welt jenseits des empirisch Wahrnehmbaren nicht vorstellen. Ihnen fehlt eine „religiöse Musikalität“, eine natürliche Affinität für das Potential jenseits des Sichtbaren.“

Das ist nicht nur unwahr – sondern es verhält sich genau umgekehrt. Die Perspektivverkürzung liegt hier (wie so häufig) auf der Seite der Gläubigen.
Na selbstverständlich kann sich auch der Skeptiker eine transzendente Realität jenseits des Sichtbaren vorstellen. Eine metaphysische Über-Realität, in der Gott ewig atmet und waltet, in der ein allumfassendes Bewusstsein seinen Schöpferwillen ins materielle Sein zwingt – und Anteil nimmt am Schicksal des Menschen, welches er mit Güte und freigiebigem Gewährenlassen begleitet. Das alles ist problemlos vorstellbar.

Erweiterte religiöse Musikalität

religiöse MusikalitätAnders als bei vielen Gläubigen reicht das Vorstellungsvermögen des Skeptikers jedoch noch ein paar Meter weiter. Er kann sich nicht nur das transzendente Inventar seiner religiösen Kinderstube vorstellen, die er von seinem sozialen Umfeld übernommen hat – sondern auch noch ein paar transzendente Alternativszenarien mit derselben Plausibilität:

  • Zwei Götter.
  • 17 Götter.
  • Ein Gott, der sich nie offenbart hat, so dass Bibel oder Koran bloße Zeugnisse menschlichen Aberglaubens sind.
  • Ein transzendenter Schöpfer, der mittlerweile tot ist.
  • Ein transzendentes Paralleluniversum, welches aber keine Götter enthält.
  • Zehn transzendent-verschachtelte Über-Realitäten, die auf magische Weise subtil miteinander interagieren.

Alle diese Annahmen sind nicht beweisbar – genau so wie die Gottes-Annahme.

Diese transzendenten Akteure haben also denselben Evidenzgrad und aus unserem Kenntnisstand dieselbe Wahrheitswahrscheinlichkeit. Wer die Möglichkeit einer nicht-nachweisbaren, transzendenten Realität mit transzendentem Personal einräumt, der muss auch die ebenso plausible Existenz aller anderen, vorstellbaren, transzendeten Akteure einräumen:

Zum Beispiel einen Über-Gott, der den völkermordenden Jahwe/Allah nur als moralischen Test für uns Menschen erschaffen hat – um unsere ethischen Impulse gegenüber unserer kritiklosen Loyalität zum transzendenten Alpha-Tier zu emanzipieren.

Zum Beispiel einen über-transzendenten, götterfressenden Pinguin Eric, der alle Götter gefressen und beseitigt hat.

Wer Gott und den Teufel einräumt, der muss ehrlicherweise auch Teufels Großmutter einräumen.

Eric, der götterfressende PinguinDie Skepsis des Atheisten rührt nicht aus einem Mangel an Vorstellungskraft, sondern aus der fehlenden epistemischen Rechtfertigung für alle diesen behaupteten transzendenten Realitäten. Vorstellen kann man sich beliebiges.

Aber nichts deutet darauf hin, dass solche Vorstellungen wahr sind. Die Skepsis rührt nicht aus „Fantasielosigkeit“, sondern aus einem vollständigeren Vorstellungsvermögen. Und aus der intellektuellen Ehrlichkeit, gleichermaßen wahrscheinliche transzendente Alternativ-Realitäten auch gleichermaßen ernst zu nehmen.

Er zeugt vielmehr von einer Perspektivverkürzung auf Seiten der Gläubigen, dass ihre Vorstellungskraft so oft an der Grenze ihrer eigenen Theologie endet und alle darüber hinaus vorstellbaren, gleichermaßen plausiblen Alternativen übersieht. (Oder es versäumt, gleiche epistemische Standards an Hypothesen gleicher Evidenz anzulegen).

*Veröffentlichung des Beitrages über religiöse Musikalität mit freundlicher Genehmigung des Autors
**Meme basierend auf einer Übersetzung der Webseite ericthegodeatingpenguin.com

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1 Gedanke zu „Religiöse Musikalität?“

  1. Der Artikel bringt es gut auf den Punkt: Es kommt nicht darauf an, was man sich alles vorstellen kann, sondern darauf, was davon wahr und real ist.

    Mit der Lobpreisung einer vagen „Transzendenz“ verbinden die Kirchen aber noch eine weitere Behauptung, und das ist von großer Bedeutung. Die Kirchen, allen voran der römisch-katholische Zweig, behaupten zugleich eine faktische Wahrheit, ja sogar eine völlige Gewissheit.

    Das ist ein plumper Betrug, in der Hoffnung, dass niemand so genau weiß, was eigentlich „Transzendenz“ bedeutet.

    Transzendenz meint jene Dinge, die unserem Wissen und unserer Wahrnehmung entzogen sind. Möglicherweise vorübergehend, möglicherweise prinzipiell und für immer. Es ist also der Gegenpol zum sicheren Wissen.

    Daraus folgt: Was man durch Prüfung sicher weiß, ist daher nicht transzendent. Und was transzendent ist, sich also dem Wissen entzieht, kann man nicht als „sicheres Wissen“ ausgeben. Beide schließen sich gegenseitig aus.

    Die katholische Kirche kümmert sich aber nicht um diesen Sachverhalt, sondern behauptet einfach, sie verfüge über eine sichere Kenntnis des Transzendenten, obwohl das ein Widerspruch ist.

    Der Vatikan ist sich dabei für kein Superlativ zu schade. Scheinheilig wird folgendes verkündet: „Der Glaube ist gewiss, gewisser als jede menschliche Erkenntnis […]“ (Quelle: Katechismus, §157). Ja, was denn nun? Ist es transzendenter Glaube? Oder ist es die höchste Gewissheit? Wenn es so gewiss ist, wieso nennt man es dann „Glaube“?

    Aber die Verstiegenheit dieser Behauptung reicht dem Vatikan noch nicht. Es muss noch gewisser werden als nur gewiss. Jeder Irrtum muss ausgeschlossen sein. Der Vatikan predigt deswegen großmäulig, dass die Transzendenz „ohne Schwierigkeit, mit sicherer Gewissheit und ohne Beimischung eines Irrtums erkannt werden kann“ (Quelle: Katechismus, §38).

    So einfach ist das also. Irrtum ausgeschlossen. Tja… man muss halt daran glauben.

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