In den vergangenen Tagen war der Hardcore-Evangelikale und ehemalige ZDF-Moderator Peter Hahne mit der vehementen Forderung öffentlich in Erscheinung getreten, die Kirchen an Ostern trotz Versammlungsverbot für Gottesdienste zu öffnen.
Ironischerweise ist es ja eigentlich die Kirche, die ihrerseits mit absurden Tanz- und Vergnügungsverboten die gesamte Bevölkerung regelmäßig dazu zwingt, an ihren „Stillen feiertagen“ auf Freude, Spaß und Lebensqualität zu verzichten. Und dabei geht es nicht um die möglichst effektive Eindämmung einer Pandemie.
Sondern darum, dass sich Gläubige einbilden, Tanzveranstaltungen oder auch Aufführungen bestimmter Filme (darunter Heidi, Die Brüder Löwenherz oder auch Dumm und Dümmer 2) könnten ihre rituelle Trauer beeinträchtigen, die sie alljährlich wegen irgendwelcher absurder Ereignisse aus der biblisch-christlichen Mythologie zur Schau stellen möchten.
Vorab kurz zur Erklärung für spätere Generationen:
Wir schreiben das Jahr 2020. Ein neu aufgetretenes Coronavirus hat praktisch die gesamte Weltbevölkerung mehr oder weniger in Stillstand versetzt.
Nach allen bisher gemachten Erfahrungen gibt es zwei Szenarien: Entweder, die Bevölkerung vermeidet alle nicht unbedingt erforderlichen Kontakte untereinander, zögert damit die Ausbreitung der durch das Virus ausgelösten Erkrankung hinaus und trägt so dazu bei, eine Überlastung der Gesundheitssysteme durch exponentiellen Anstieg von Erkrankungen zu verhindern.
Auch soll so Zeit gewonnen werden, die die Wissenschaft zur Erforschung und Bereitstellung eines Impfstoffes oder eines Medikamentes zur Behandlung braucht.
Oder, die Bevölkerung verhält sich weiter wie bisher. Dann kommt es in diesen Regionen zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionszahlen. Und in der Folge zu einer Überlastung der medizinischen Versorgungseinrichtungen. Das wiederum wird dann in erster Linie für alle Menschen lebensbedrohlich, die zu den Risikogruppen gehören. Zum Beispiel aufgrund ihres Alters. Oder wegen ihrer Vorerkrankungen.
Diese Zusammenhänge dürften im Frühjahr des Jahres 2020 wohl allen Menschen bekannt sein, sofern sie nicht ohne Kontakt zur restlichen Welt auf einsamen Inseln oder in Urwäldern zuhause sind.
Beide Szenarien beruhen nicht etwa (wie so viele Behauptungen in diesem Zusammenhang) auf Prognosen, Hochrechnungen, Hypothesen oder kruden Verschwörungs“theorien“, wie sie gerade zu Hunderten im Umlauf sind. Sondern auf der Beobachtung des irdischen Geschehens.
Die Frage nach der Systemrelevanz
Bis Anfang April war es der Regierung in Deutschland gelungen, eine explosionsartige Ausbreitung (abgesehen von sehr wenigen und kleinen Hotspots) durch verschiedene Maßnahmen effektiv zu verhindern.
Diese Maßnahmen bestanden in erster Linie aus Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, wie zum Beispiel Ausgangs- und Besuchsbeschränkungen. Aber auch aus einer vorübergehenden Einstellung „nicht-systemrelevanter“ Tätigkeiten und Angebote.
Wie zu erwarten und in einer Demokratie auch zu erhoffen, ergab sich durch diese außergewöhnliche Situation sofort auch eine Diskussion darüber, wer oder was denn nun eigentlich tatsächlich als systemrelevant einzustufen sei. Und in welchen Bereichen man Menschen durchaus mal einen zeitlich begrenzten Verzicht verordnen kann, wenn es um Leben und Tod geht.
Und dass bei einer Pandemie tatsächlich und auch innerhalb kürzester Zeit das Leben von Menschen auf dem Spiel steht, zeigen die Berichte aus den Regionen, in denen das Gesundheitssystem nicht mehr in der Lage ist, die Situation auch nur halbwegs im Griff zu haben.
Von Triage-Situationen ist die Rede: Mediziner müssen entscheiden, wen sie versorgen und wen sie mangels Personal oder Equipment sterben lassen müssen.
Schizophrene Situation
Anfang April, kurz vor den Osterfeiertagen, stellt sich die Situation in Deutschland als geradezu schizophren dar: Die Maßnahmen scheinen zu greifen. Ein großer Ausbruch, der das deutsche Gesundheitssystem vor unlösbare Probleme stellen würde konnte bislang verhindert werden.
Gleichzeitig werden Stimmen laut, die hinter den staatlich verordneten und durchaus tiefgreifenden Eingriffen in die persönliche Freiheit ganz andere Absichten vermuten. Alles sei nur inszeniert, um die Demokratie abzuschaffen. Und den Menschen nach und nach immer mehr persönliche Rechte zu entziehen. Das alles unter dem Deckmantel der Gesundheitsfürsorge.
„Alles nur Panikmache – es war doch gar nicht so schlimm wie behauptet“, heißt es da. Irgendwie scheint diesen Leuten entgangen zu sein, dass der bisher noch überwiegend glimpfliche Verlauf eben diesen Maßnahmen zu verdanken ist.
Interessant wäre es zu erfahren, wie diese Leute reagieren würden, wenn sie oder ihre Angehörigen zum Beispiel aufgrund einer Triage-Situation wegen ihres Alters oder bestehender Vorerkrankungen statt eines Beatmungsgerätes und entsprechender medizinischer Versorgung einen Seelsorger zur Sterbebegleitung zugeteilt bekommen würden.
Was nicht heißt, dass alle, und damit natürlich auch solch umfangreiche und tiefgreifende Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte nicht äußerst kritisch hinterfragt, bewertet, solide begründet und natürlich zeitlich und umfänglich auf das erforderliche Minimum begrenzt werden müssen.
Alkohol! Gebet!
Wie oben schon angedeutet, soll es diese Zusammenfassung der Leserschaft in späteren Zeiten eine Vorstellung von der Situation vermitteln, in die hinein sich der Fernsehchrist Peter Hahne ein paar Tage vor Ostern medienwirksam echauffierte:
„Warum sind Getränkemärkte (Alkohol!) geöffnet, Gotteshäuser (Gebet!) geschlossen? Warum kann im Supermarkt Abstand gewahrt werden, im Bibelkreis nicht? Hält man Christen für dumm? Lieber Abstand als Leerstand.“
(Quelle: idea.de: Warum sind Getränkemärkte auf und Kirchen zu? vom 6.4.2020, abgerufen am 11.4.2020)
Dem vorausgegangen war der Erlass eines Versammlungsverbotes, von dem auch alle Gottesdienste betroffen waren. Auch zwei Eilanträge konnten daran nichts ändern: Ostergottesdienste finden 2020 vor leeren Kirchenbänken statt. Obwohl doch gerade Ostern für immer mehr Christen oft noch der letzte Anlass für einen jährlichen Kirchenbesuch ist.
Eine Zusammenfassung der rechtlichen Aspekte am Beispiel Berlin gibt es in diesem Artikel bei rsw.beck.de: Das Verwaltungsgericht sah bei der Entscheidung keine Grundrechtsverletzung. Der Eingriff sei zum Schutz von Leben und Gesundheit gerechtfertigt und das Verbot sei verhältnismäßig, so die Einschätzung des Gerichtes.
Für Herrn Hahne scheint es geradezu unerträglich zu sein, dass Getränkemärkte in unserer Gesellschaft als systemrelevant eingestuft werden. Während Regierung und Gericht bei einer Risiko- und Relevanzabwägung für Gottesdienste zu einem anderen Ergebnis kommen.
Pandemie wird zur „Stunde der Wahrheit“
Und das nicht nur für Religionen. Sondern auch für alle anderen Heilsverkäufer, sowie Experten, Demagogen und Dummschwätzer aller Art.
Verharmlosungen, Ignoranz und falsche Versprechen entlarven sich jetzt mitunter innerhalb von Stunden oder Tagen als Lüge.
Und auch Gebete entlarven sich von selbst als das, was sie im Grunde sind: Eine spezielle Art geistiger Masturbation. Abgesehen von einem wohligen Gefühl für die Betenden bewirken sie – nichts. Schon gar nicht in der Art und Weise, wie sich Gläubige das offenbar vorstellen, wenn sie sich selbst glauben würden, was sie da so alles zusammenbeten. Nämlich dass ihr lieber Gott seinen ewigen Allmachtsplan möglicherweise in ihrem Interesse ändert, wenn sie ihn darum bitten.
Die „Wege des Herren“ werden also noch eine ganze Weile „unergründlich“ bleiben müssen. So lange, bis sich irgendetwas an der Situation verbessert oder zumindest nicht weiter verschlimmert. Spätestens, wenn ein Gegenmittel bzw. Impfstoff entwickelt und produziert sein wird, wird man sich wieder damit brüsten, man habe mit seinen Gebeten aktiv zur Bewältigung der Krise beigetragen.
Mit den Berufschristen, die berufsbedingt auch jetzt noch an der Verkündigung ihres christlichen Heilsversprechens festhalten müssen, könnte man fast schon Mitleid haben:
Ihre „Frohe Botschaft“ geht von einem absurden, magisch-esoterisch erweitertem Phantasy-Weltbild aus. Der Anteil derer, die sich heute noch tatsächlich für erlösungsebdürftig halten, dürfte sogar innerhalb der christlichen Herde hart an der einstelligen Prozenthürde kratzen.
Noch sicherer als Abstand? Leerstand
Religiöse Versammlungen waren in mehreren Fällen weltweit nachweislich die Ursache für explosionsartige Neuinfizierungen. Wie zum Beispiel in Südkorea und im Elsass.
Und indem zum Beispiel die katholische Kirche ihre Anhänger über ihre Social Media-Kanäle noch in dem Irrglauben bestärkt, es liege letztlich sowieso alles „in Gottes Hand“ und man könne und solle ruhig auf göttliche Hilfe hoffen, leistet sie Beihilfe zu potentiell lebensgefährlichem und verantwortungslosem Verhalten.
Was die Ausbreitung bei religiösen Veranstaltungen angeht: Hier war nicht immer nur Unwissenheit um die Gefahr der Grund. In amerikanischen Megachurches haben Prediger ihr Publikum aktiv dazu aufgefordert, jetzt erst recht den Leuten neben ihnen die Hand als „Zeichen des Friedens“ zu reichen.
Auch in verschiedenen anderen christlichen Konfessionen halten sich die Anführer und ihre Kunden offenbar für „göttlich immunisiert“, wenn sie beim Konsum ihrer bewusstseinsverengenden Drogen für alle Schäflein dasselbe Besteck verwenden.
Better safe than sorry
Immerhin hatte Herr Hahne bei seinem Statement gefordert, dass Gläubige aus der Risikogruppe nicht an Gottesdiensten teilnehmen sollten (wenn sie denn hätten stattfinden dürfen).
Allerdings ist kaum davon auszugehen, dass es allen potentiellen Gottesdienstbesuchern bewusst gewesen wäre, ob sie zu einer Risikogruppe gehören oder nicht.
Und ob ein von österlicher Vorfreude berauschter Priester oder Pastor tatsächlich irgendwen heimgeschickt hätte, der ihm zu alt oder zu krank vorgekommen wäre? Wenn er doch schon mal da ist?
Mimimimi….
Wie in diesem Beitrag auf katholisch.de zu erfahren ist, fühlt sich offenbar nicht nur Herr Hahne in seinen religiösen Gefühlen verletzt.
Der Freiburger Theologe Stephan Wahle zeigt sich verwundert, dass „…Kirchenleute in der Corona-Krise nicht stärker wahrgenommen werden.“
- Schließlich habe gerade in Krisenzeiten das kirchliche Angebot in Form religiöser Zeremonien und Riten etwa Tröstendes. „Deshalb sind Pfarrer ähnlich wichtig wie systemrelevante Berufe“, so Wahle.
(Quelle: katholisch.de)
Die Formulierung „ähnlich wichtig wie systemrelevante Berufe“ zeugt nicht gerade von starkem Vertrauen in die Relevanz des eigenen Berufsstandes oder des Heilsversprechens, das es an die Schäflein zu bringen gilt.
Keine Messen – keine Kollekten
Tatsächlich gibt es auch noch einen ganz handfesten, sehr weltlichen Aspekt, warum es Kirchenfunktionären so schwer fallen dürfte, das vorübergehende Versammlungsverbot als notwendig zu tolerieren:
- Allein am fünften Fastensonntag 2019 wurden in Tausenden deutschen Gottesdiensten rund zehn Millionen Euro für Hilfsprojekte weltweit gesammelt. Doch 2020 fallen wegen der Beschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus seit Wochen die Gottesdienste aus und damit auch die Kollekten.
(Quelle: spiegel.de)
Wenn im Zusammenhang mit Kirchen von „Hilfsprojekten“ die Rede ist, dann darf man nicht vergessen, dass die Kirchen auch die Verbreitung ihrer Glaubenslehre für „hilfreich“ erachten.
Auch sollte man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass allein die katholische Kirche in Deutschland über ein dreistelliges Milliardenvermögen verfügt.
Europäische Humanistische Föderation ruft Kirchen zur Einhaltung der Gesetze auf
Das news- und community-Portal humanistisch.net veröffentlichte am 8. April 2020 eine Stellungnahme der European Humanist Federation (EHF) zu diesem Thema.
Darin heißt es:
- Religiöse Gruppen müssen davon absehen, Praktiken aufrechtzuerhalten, die gegen die Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit verstoßen. Öffentliche/staatliche Behörden sollten jede Person oder Institution strafrechtlich verfolgen, die andere zu einem Gesetzesbruch oder zu einem Verhalten auffordert, das die Gesundheit der Bürger*innen gefährdet.
(Quelle: humanistfederation.eu Zit. n. dt. Übersetzung auf humanistisch.net)
bei idea.de:
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Das ist auf fast allen religiösen Seiten entweder so, oder es werden „kritische“ Kommentare gar nicht zugelassen, gesperrt.
Das nenne ich mal echte religiöse Diskussionskultur!
Sehr bedenklich ist, dass Herr Hahne bei Getränken automatisch an Alkohol denkt….