Der letzte Gang – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 7 Min.

Der letzte Gang – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pfarrerin Stefanie Schardien, veröffentlicht am 6.2.2021 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Anhand eines Erlebnisses aus ihrer Kirchengemeinde erklärt Pfarrerin Schardien, was für sie „Freiheit am Lebensende“ bedeutet. Und was nicht.

In der heutigen Rahmenhandlung erfährt das Publikum von einem sterbenden Menschen, der seine Tochter darum bittet, ihm beim Suizid behilflich zu sein:

[…] Theoretisch wäre das möglich, ja. Sie wäre dafür nicht belangt worden.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Der letzte Gang – Wort zum Sonntag, verkündigt von Pfarrerin Stefanie Schardien, veröffentlicht am 6.2.2021 von ARD/daserste.de)

Broschuere: Mein Ende gehört mir
Broschüre letzte-hilfe.de (PDF)

Die kirchliche (genauer: kirchenlobbyistische) Einflussnahme auf die Selbstbestimmung aller Bürger (und nicht etwa nur auf die der eigenen Schäfchen!) bezüglich des Lebensendes ist einer der großen Kritikpunkte bezüglich fehlender Trennung von Staat und Kirche.

Das Thema „selbstbestimmtes Sterben“ lässt sich nicht in zwei, drei Sätzen abschließend behandeln. Wer sich damit auseinandersetzen möchte oder muss dem sei zur Lektüre empfohlen:

  • Uwe-Christian Arnold: Letzte Hilfe – Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben
  • letzte-hilfe.de: Mein Ende gehört mir! Für das Recht auf letzte Hilfe
  • Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15
  • dghs.de: Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) e. V.
  • hpd.de: Stellungnahme von Michael Schmidt-Salomon vor dem Bundesverfassungsgericht: „§ 217 StGB dient nicht dem Lebensschutz, sondern selbsternannten Lebensschützern!“
  • hpd.de: Weitere Beiträge zum Stichwort Sterbehilfe

Einzelne tragische Fälle?

Als Pfarrerin weiß ich: Es gibt einzelne tragische Fälle. Da steht mir ein Urteil nicht zu. Und diese Menschen lasse ich nicht allein. Nur: Muss daraus folgen, dass es Suizidbeihilfe als offizielles Angebot geben soll?

Glücklicherweise orientiert sich die Gesetzgebung nicht am persönlichen Urteil von Pfarrerinnen über die „Tragik“ (oder (Un-)Erträglichkeit) der Lebenssituation anderer Menschen.

Im ersten Leitsatz zum Urteil des Zeiten Senates vom 26. Februar 2020 heißt es:

  1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
  2. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.
  3. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.
    (Quelle: Bundesverfassungsgericht: 1. Leitsatz zum Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15)

Was meinen Sie konkret mit „Und diese Menschen lasse ich nicht allein.“? Stimmen Sie einem assistierten Suizid zu, wenn Ihnen die Situation eines Menschen Ihrem Empfinden entsprechend tragisch genug erscheint?

Und dann entscheiden Sie: Schön wärs…

In Krankenhäusern, in Seniorenheimen? Das könnte bald so kommen. Aber macht uns das wirklich freier am Lebensende? Wer weiß, was Elkes Vater getan hätte, wenn er in der Klinik informiert worden wäre: „Sie können als letzte Option natürlich auch selbst ihrem Leiden ein Ende setzen. Wir beraten Sie gern. Und dann entscheiden Sie.“

Darüber, was der Mann getan hätte, wenn ihm diese Möglichkeit angeboten worden wäre, lässt sich hier nur spekulieren. Möglicherweise hätte er davon, seinem vorher geäußerten Wunsch und seinem Recht auf Selbstbestimmung entsprechend, Gebrauch gemacht.

Vielleicht aber auch nicht: Allein die Gewissheit, eine Option auf eine „letzte Hilfe“ zu haben, um bei Bedarf über das eigene Lebensende tatsächlich selbst bestimmen zu können, dürfte für viele Menschen eine große Erleichterung sein. Und zwar auch dann, wenn sie von dieser Option gar keinen Gebrauch machen.

Freie Entscheidung

Mit dieser rhetorischen Frage hat Frau Schardien noch kein Argument gegen selbstbestimmtes Sterben geliefert. Der Punkt, auf den sie offenbar hinaus will, sind ihre Bedenken, inwieweit Menschen an ihrem Lebensende noch in der Lage sind, freie Entscheidungen zu treffen:

Nicht alle, aber die meisten Menschen, die ich als Pfarrerin im Sterben oder kurz davor erlebe – die sind nicht mehr klar, stark. Die strotzen nicht vor Selbstbestimmung. Sie sind oft unsicher, hilfsbedürftig, beeinflussbar.

Bei diesem Argument schwingt die Befürchtung mit, Menschen könnten gegen ihren Willen oder aus niederen Beweggründen dazu verleitet werden, sich töten lassen zu wollen. Natürlich ist es auch hier erforderlich, dass die Umsetzung der gerichtlich festgestellten Freiheit auf selbstbestimmtes Sterben umfassend diskutiert und auf einer ethisch und rechtlich soliden Basis geregelt wird.

Enttabuisierung

Ein wichtiger Aspekt ist hierbei sicher die Enttabuisierung des Sterbens. Wer sich schon beizeiten mit dem Thema auseinandergesetzt und seine Wünsche und Vorstellungen zum Beispiel in Form einer Patientenverfügung festgehalten hat, der kann damit für Zeiten vorsorgen, in denen er sich womöglich nicht mehr äußern kann.

[…] Viele haben keine liebevolle Familie zur Unterstützung. Und für Gesunde oft unverständlich: Ganz viele sorgen sich, wem sie im Heim oder in der Verwandtschaft gerade zur Last fallen, Geld kosten, Mühe machen. Wofür das alles noch, wo sie doch nur noch im Bett liegen können? Was braucht es, damit diese Menschen sich frei fühlen am Lebensende?

Es braucht die Gewissheit, über das eigene Lebensende selbstbestimmt entscheiden zu können. Und dazu ist es hilfreich, sich rechtzeitig mit den Optionen befasst zu haben, die Menschen im allerletzten Lebensabschnitt zur Verfügung stehen.

70,8 Prozent

Bei einer Umfrage nach Ausstrahlung der Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Stück „Gott“ stimmte eine überwältigende Mehrheit der befragten Zuschauer dafür, dass ein Mann auch dann Sterbehilfe erhalten solle, wenn keine Gründe vorliegen, die Frau Schardien vermutlich als hinreichend tragisch einschätzen würde:

  • Fernsehabend zum Thema Sterbehilfe: „Gott“ und „Hart aber fair“ zeigen eindeutige Zuschauerreaktionen
    […] Die deutschen Fernsehzuschauer*innen stimmten gestern mit 70,8 Prozent dafür, dass ein 78-jähriger Mann (der nicht schwerstkrank oder schwerstbehindert ist, aber nach dem Tod seiner Frau keinen Sinn mehr in seinem Leben sieht) ein todbringendes Medikament zur Ermöglichung eines sanften, selbstbestimmten Suizids erhalten soll.
    (Quelle: letzte-hilfe.de, Blogbeitrag vom 24. November 2020)

Erwartungsgemäß anders hatten Kirchenvertreter und Palliativ-Funktionäre reagiert. Wobei auch innerhalb der Christenschar die Lage eindeutig anders ist:

  • Nur 14 Prozent der Protestanten und 18 Prozent der Katholiken in Deutschland stimmen der amtskirchlichen Position zu, Gott allein dürfe über Leben und Tod entscheiden.
    (Quelle: letzte-hilfe.de/appell)

Stattdessen: Hospiz

Für Elkes Vater gab es einen anderen Weg: Elke hat ihm kein Mittel mitgebracht. Stattdessen zieht er um in ein Hospiz.

Ohne die näheren Umstände zu kennen, lässt sich dazu kaum etwas sagen.

War der Mann noch in der Lage, seinen Willen klar und bei vollem Bewusstsein zu artikulieren? Hatte er seine Wünsche bezüglich seines Lebensendes vorher schon mal geäußert oder schriftlich festgehalten?

War der Umzug in ein Hospiz sein eigener Wunsch? Oder war er, wie für Menschen in dieser Situation beispielhaft von Frau Schardien beschrieben, hilflos und beeinflussbar?

Bis jetzt hat Frau Schardien noch keinen Grund genannt, warum dem Wunsch des Mannes, sein Leben zu beenden nicht entsprochen worden war.

Suizid: Nicht ok. Verhungern: Ok?

Dort werden seine Schmerzen so gelindert mit Medikamenten, dass sein Wunsch verschwindet, sich selbst zu töten. Statt einer Beratung zum Suizid stellen die Schwestern die Fotos von der Familie so hin, dass er sie immer sehen kann. Als er wieder einmal grübelt, ob das noch ein Leben ist, reibt ihn der Pfleger mit seinem Lieblingsrasierwasser ein. Als er nichts mehr essen mag, muss er das auch nicht.

Quelle. Ralf König via hpd.de
© Ralf König via hpd.de via twitter.com

Auch hier kann man nur hoffen, dass dieses Vorgehen nicht nur im Sinne der Tochter und des Hospizes, sondern auch im Sinne des Mannes war, um dessen Lebensende es hier ging.

Vielleicht hätte es seine Tochter nochmal mit seinem Lieblingsgericht versuchen sollen? Oder mit einer Magensonde? Damit er sein Leben dann vielleicht ja doch noch etwas länger hätte auskosten wollen?

Und das ist nicht sarkastisch gemeint: Woran orientieren sich Menschen bei ihrer Entscheidung, welche Form der Willensbekundung sie tolerieren und welche nicht?

Inwiefern ist das Unterlassen von lebensverlängernden Maßnahmen ethisch anders zu bewerten als das eigene Leben in Würde selbst und bei Bedarf mit Unterstützung zu beenden?

Bleib‘ doch noch ein bisschen – mir zuliebe!

Seine Tochter Elke ist oft einfach da, hält seine Hand, erzählt. Es tut auch ihr gut, dass sie so Abschied nehmen kann.

Allen Menschen, die sich ihren allerletzten Lebensabschnitt so vorstellen, ist zu wünschen, dass sie die Möglichkeit haben, ihn auch so erleben zu können.

Und alle anderen müssen die Möglichkeit haben, über ihr Lebensende selbstbestimmt zu entscheiden. Und zwar unabhängig davon, wie ihre Angehörigen das sehen oder vielleicht gerne hätten.

Zynischer Trost

So lange dauert es dann gar nicht mehr für ihren Vater.

Erstens ist nicht davon auszugehen, dass der Aufenthalt eines offenbar todkranken Menschen in einem Hospiz eine längerfristige Angelegenheit wird. Die durchschnittliche Verweildauer in einem stationären Hospiz beträgt 2 bis 4 Wochen (Quelle).

Und zweitens erscheint dieser Hinweis geradezu zynisch, wenn er als Argument gegen Sterbehilfe gemeint sein soll. Sinngemäß: „Na komm, du lebst doch sowieso nicht mehr lang, die paar Tage hältst du noch durch…“

Niemand hindert ihn. Nichts drängt ihn. Das ist Freiheit am Lebensende.

Auch hier lässt sich ohne Kenntnis der näheren Umstände nur bedingt etwas Konkretes sagen.

Die Schilderungen deuten nicht darauf hin, dass ihn jemand zu der Willensbekundung sterben zu wollen gedrängt hätte. Trotzdem war der Mann an der Umsetzung seines Wunsches, sein Leben zu beenden offenbar nicht nur nicht unterstützt, sondern sehr wohl gehindert worden.

Ihm war die Freiheit genommen worden, über sein Lebensende selbst zu bestimmen. Und das lobt Frau Schardien dann als „Freiheit am Lebensende“?

Hier noch einige Erläuterungen zu Argumenten, die oft gegen eine ärztliche Freitodbegleitung vorgebracht werden, zu finden auf der Webseite letzte-hilfe.de:

Sterbehilfe ist Lebenshilfe

Sämtliche Argumente, die gegen die ärztliche Freitod­begleitung vorgebracht werden, sind durch die Erfahrungen der Länder, in denen sie offiziell praktiziert wird (Schweiz, Benelux-Staaten, Oregon, Washington), empirisch widerlegt:

  • Die gesellschaftliche Akzeptanz von Freitodbegleitungen führt nicht zu einer Verschlechterung, sondern zu einer Verbesserung des palliativ­medizinischen Angebots. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet der US-Bundesstaat Oregon und die Benelux-Staaten über die beste palliativ­medizinische Versorgung der Welt verfügen. Palliativmedizin (»Hilfe beim Sterben«) und Freitodbegleitung (»Hilfe zum Sterben«) sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich.
  • Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wird keineswegs gestört, wenn sich ein Arzt dazu bekennt, Letzte Hilfe zu leisten, sondern vielmehr gestärkt. Denn die meisten Patienten beruhigt es zu wissen, dass sie auch in ausweglosen Situationen auf ihren Arzt zählen können. Die Gewissheit, dass sie im Notfall mit Unterstützung des Arztes selbst ihr Leid beenden können, wenn es unerträglich wird, führt zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität – auch wenn viele Patienten diese Hilfe am Ende gar nicht in Anspruch nehmen.
  • Die Einführung von Freitodbegleitungen hat nicht zur Folge, dass Ärzte häufiger lebensverkürzende Maßnahmen ohne Einwilligung des Patienten einleiten. Im Gegenteil:  Wo Menschen selbstbestimmt sterben dürfen, ist die Gefahr deutlich geringer, dass sie fremdbestimmt sterben müssen. Es ist daher unbedingt erforderlich, dass jeder Mensch die volle Verfügungsgewalt über sein Leben behält. Überträgt man dieses Recht auf andere (ob nun »die Gesellschaft« oder »die Ärzte«), steigt das Risiko, dass über das Leben und Sterben der Menschen über deren Köpfe hinweg entschieden wird.
  • Werden ärztliche Freitodbegleitungen gesellschaftlich akzeptiert, steigen die Suizidversuchsraten keineswegs an, sie gehen vielmehr zurück! Dies zeigen beispielsweise die Zahlen der Schweiz. Tatsächlich gibt es keine bessere Maßnahme zur Verhinderung von Verzweiflungssuiziden und Verzweiflungssuizidversuchen als die Etablierung eines vernünftigen, am Selbstbestimmungsrecht des Patienten orientierten Systems der Letzten Hilfe. Angesichts von bis zu 200.000 Suizidversuchen jährlich und annähernd drei Schienen­suiziden am Tag in Deutschland ist dies ein Problem von großer gesellschaftlicher Tragweite. Es wird ganz sicher nicht zu lösen sein, indem man es verdrängt oder die Suizidbeihilfe verbietet.Der richtige Weg wäre, Sterbewilligen ein offenes Gespräch zu ermög­lichen, um abzuklären, ob es für sie nicht eine bessere Lösung zum Leben hin gibt. Dies ist allerdings nur unter der Voraussetzung möglich, dass ein Suizid (etwa in der Endphase einer unheilbaren Krankheit) als zulässig betrachtet wird. Lernen wir hier von den Erfahrungen auf anderen Gebieten:  Es ist bekannt, dass rigorose Forderungen wie »Keine Drogen!«, »Kein Sex unter Teenagern!«, »Keine Abtreibung!«, »Keine Suizide!« kontraproduktiv sind, denn sie führen im Ergebnis zu mehr Drogentoten, mehr Teenager-Schwangerschaften, mehr Schwangerschaftsabbrüchen und auch zu mehr Suizidversuchen.

Quelle des letzten Abschnittes: letzte-hilfe.de)

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4 Gedanken zu „Der letzte Gang – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Vielen Dank für diesen Artikel.

    Ich habe meiner Mutter im Dezember 2016 bei ihrem Suizid geholfen. Dabei wurden wir bis kurz vor ihrem Tod von einem Fernsehteam des SWR begleitet. Die Dokumentation heißt „Frau S. will sterben“ und man kann sie auf YouTube sehen ( https://youtu.be/psYTpEr0Uzo ). Wer die Sterbegeschichte meiner Mutter aus meiner Sicht lesen möchte, ist herzlichst eingeladen auf meinem Blog nachzulesen ( http://sterbegeschichten.de/meine-sterbegeschichte/ ).

    So viel zu meinem Hintergrund und den Erfahrungen, die mich das Leben machen ließ. Weil Sie, hochgeschätzter Herr Niedermeier, bereits den sachlichen und objektiven Teil der Gegenargumentation erledigt haben, erlaube ich es mir jetzt, den emotionalen Teil zu übernehmen. Denn es ist enorm wichtig, diesen angeblich so einfachen Wahrheiten über das selbstbestimmte Sterben, wie sie hier so beispielhaft von Frau Schardien postuliert werden, die komplexen Umstände der Realität und die Vielfältigkeit des Menschseins entgegen zu stellen.

    Es fängt erstmal damit an, dass ein psychisch gesunder Mensch nicht einfach so sterben will, noch nicht einmal dann, wenn er schwer krank ist. Ich habe seit 2016 mit einigen Menschen gesprochen. Das waren kranke und gesunde, sterbewillige und lebenslustige Menschen. Es war nicht einer dabei, der das eigene Leben nicht als seinen wertvollsten Schatz betrachtet hätte und es war auch keiner dabei, der sich irgendwie als Last (die es loszuwerden gälte) empfunden hätte. Das Leben will leben. Und wenn es auch nur den kleinsten Hoffnungschimmer auf Besserung gibt, kämpfen Menschen um ihr bisschen Leben. Niemand gibt einfach so auf.

    Und dann kommt immer dieses merkwürdig zu kurz gedachte Argument, vulnerable Menschen könnten von anderen zum Suizid gedrängt werden und es dann auch noch tun. Vielleicht sollte sich Frau Schardien selbst einmal die Frage stellen wie sie reagieren würde, wenn ihr ein naher Verwandter, Vormund, das Krankenhaus oder ein von den Erben beauftragter Sterbehilfeverein nahelegte, doch jetzt endlich sterben zu wollen?

    Lassen Sie uns davon ausgehen, dass Frau Schardien beim Beantworten der Frage ganz bestimmt nicht sterben wollen würde. Vermutlich wäre dann ihre Reaktion Entsetzen und Empörung. Und zwar zu Recht! Wahrscheinlich würde sie die Frage-, bzw. Forderungssteller achtkantig rausschmeißen und sich Hilfe suchen, bspw. in ihrer Gemeinde, bei Freunden und Vertrauten, ihrem Arzt oder bei Journalisten, die solcherlei Dinge gerne aufdecken, weil so etwas tatsächlich ein Skandal wäre.

    Menschen so grundsätzlich zu unterstellen, dass sie einen solchen Angriff auf ihr Leben nicht selbst erkennen und abwehren könnten, ist nicht nur ein Mangel an Respekt vor dem Verstand und der Autonomie der Menschen, es ist vor allem auch Entmündigung. Aber ja, ich weiß, wir reden hier von der Kirche …

    Leider ist Frau Scharpiens Geschichte von „Elke“ und ihrem Vater so allgemein und geradezu banal, dass man alles und nichts hineininterpretieren kann. Vermutlich wollte sie nur auf Hospize als Alternative zum selbstbestimmten Freitod hinweisen – und bestimmt auch auf den einsamen Krankenhaus- oder Pflegeheimtod. Das ist vollkommen in Ordnung, denn Hospize können tatsächlich eine Alternative sein. Allerdings wäre es ehrlicher, wenn sie auch dazu sagen würde, dass längst nicht jeder Sterbenmüssende ein Bett dort bekommt, nicht jede Diagnose hospizwürdig ist und Palliativmedizin nicht immer und in jedem Fall helfen kann.

    All das, was Frau Scharpien aus dem Hospiz beschreibt, die Fotos der Lieben, das Rasierwasser usw. ist nicht falsch. Der beste Dienst am Menschen bei seinem Lebensende ist es aber nur dann, wenn all die Bemühungen von diesem Menschen gewollt sind. Aber spätestens wenn sich jemand anders entscheidet und sein Ende selbst bestimmen will, ist das Hospiz keine Alternative mehr.

    Der auch von Ihnen zitierte Satz

    „Niemand hindert ihn. Nichts drängt ihn. Das ist Freiheit am Lebensende.“

    macht mich in diesem Kontext mit seiner brutalen Einseitigkeit fassungslos. Denn mit den Augen eines Sterbewilligen betrachtet, sagt dieser Satz das komplette Gegenteil aus. Man hindert den Sterbewilligen eine autonome Entscheidung zu treffen. Man drängt ihn auszuhalten und auch noch Dankbarkeit dafür zu zeigen. Würde Frau Scharpien die Freiheit anderer Menschen tatsächlich wichtig sein und deren umfassende (Entscheidungs)Freiheit mitdenken, hätte sie diesen Satz nicht so formulieren können.

    Viele Sterbehilfegegner erlauben sich zumeist ungefragt die Anmaßung, ob das Leiden anderer Menschen (noch) aushaltbar ist oder nicht. Dabei sind Leiden von Natur aus höchst subjektiv und die Grenzen der Menschen so unterschiedlich, wie die Menschen selbst. Auch bei meiner Mutter haben sich Menschen, die weder meine Mutter in Persona noch ihre Beschwerden kannten, dazu verstiegen zu behaupten, „dass es ihr so schlimm ja noch gar nicht ging und sie durchaus noch ein paar Jahre hätte leben können“.

    Wahrscheinlich wusste meine Mutter, dass sich nach ihrem Suizid Hinz und Kunz die „Freiheit nehmen“ würden, sich solche Respektlosigkeiten zu erlauben. In der Dokumentation (bei YouTube ab Minute 23:27) beugt sie dem sehr deutlich vor:

    „Ich bin einfach nur dankbar, dass ich bis hierher gekommen bin. Und es braucht mich keiner zu bedauern und es braucht auch keiner zu sagen, naja, na so schlecht ging es ihr ja nun auch wieder nicht. […]“

    Und doch ist genau das passiert. Mehrfach und öffentlich. Eben einfach respektlos.

    Genau diese Respektlosigkeit zieht sich auch durch Frau Scharpiens Text. Es ist dieser starke Paternalismus, von dem religiöse Mennschen offenbar nicht ablassen können, weil sonst wohl ihr gesamtes Weltbild in Frage stünde.

    Aber es nervt einfach nur noch. Weil es so sehr aus der Zeit gefallen ist.

    Antworten
    • Hallo Herr Sander, vielen Dank für Ihren aufschlussreichen Kommentar, der einen Einblick in Ihre Perspektive als Angehöriger bietet. Auch uns fällt die Respektlosigkeit und Übergriffigkeit auf – und zugleich die Feigheit, die religiösen Scheinargumente (Stichwort: Gottesebenbildlichkeit usw.) zu nennen, mit denen Christen selbstbestimmtes Sterben ablehnen.

      Herzliche Grüße vom AWQ-Team und vielen Dank für Ihr Engagement!

      Antworten
  2. Die Thematik selbstbestimmtes Sterben lässt mich seit einigen Monaten auch nicht los. Meine Tochter ist vor kurzem 18 Jahre alt geworden und denkt (mutmaßlich im Zusammenhang mit einer diagnostizierten Depression ) schon sehr lange über Leben und Sterben nach. Ich bin aufgrund meiner christlichen Erziehung, von der ich zum Glück vor knapp eineinhalb Jahren endgültig Abschied genommen habe, immer in dem Glauben gewesen, dass Leben in JEDEM FALL schützens- und bewahrenswert ist. Meine Tochter hat mich zu neuem Denken animiert: unabhängig von Alter, Krankheiten etc. sollte jeder Mensch selbst entscheiden, ob wie und wann er/sie sterben will. Soweit so gut. Dennoch ist es für mich ein unerträglicher Gedanke, sie nicht am Suizid zu hindern. Sie sagt, es sei egoistisch, arrogant und anmaßend, Menschen daran hindern zu wollen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich finde, sie hat durchaus recht. Dennoch ist sie nach vielen langen und nervlich zermürbenden Gesprächen letztlich stationär in die Psychiatrie gegangen. Wahrscheinlich für Wochen oder gar Monate. Ich weiß, dass sie das meinetwegen tut. Weil sie nach eigener Aussage mir gegenüber Schuldgefühle hätte, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzen würde. Obwohl es in ihren Augen das einzige ist, was sie für sinnvoll hält. Ich habe mich intensiv mit der Thematik Depression/Suizid/ psychische Krankheiten beschäftigt. Inwieweit kann man Menschen in psychiatrische Behandlung bringen, um sie vor etwas zu „schützen“, was gemeinhin als Gefahr für Leib und Leben bezeichnet wird? Wer maßt sich an zu urteilen, wann jemand mit seinem Leben fertig ist, es nicht mehr als lebenswert ansieht? Gibt es eine Altersgrenze, ab wann ein Suizid gerade so ok ist? Wer entscheidet über geistige Klarheit, Mündigkeit, Gesundheit, Urteilsfähigkeit???
    In unserer Gesellschaft ist die religiös vernebelte Denkweise zum Thema Sterben allgegenwärtig und in den Köpfen der Menschen fest verankert! Ich nehme mich da nicht aus. Auch ich habe mich neu sortieren müssen mit meiner Ansicht. Es wird noch sehr lange dauern, bis die Freiheit zu sterben eine wirklich freie Entscheidung ist.

    Antworten
  3. Es geht darum, das Leid zu beenden!
    Und nicht endlos zu leiden!
    Von Olafs Beircht bin ich sehr beeindruckt.
    Zum Glück war ich nocht nicht in so einer Situation!
    Dennoch vertrete ich die Ansicht, dass es einfach anmaßend ist, der Auffasuung zu sein, Gott ist der alleinige Herr über Leben und Tod!

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