Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Fremdenliebe: Der Engel im Anderen

Lesezeit: ~ 5 Min.

Das Wort zum Wort zum Sonntag zum Thema Fremdenliebe: Der Engel im Anderen, gesprochen von Alfred Buß (ev.), veröffentlicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ARD/daserste.de

Das „Wort zum Sonntag“ ist fast immer nach dem gleichen Schema aufgebaut: Irgendein aktuelles Thema dient als Aufhänger. Ob Olympia, Fußballweltmeisterschaft, Politik oder, wie diesemal, Fremdenliebe – das spielt kaum eine Rolle. Dann erfolgt eine Bewertung, eine Stellungnahme. Und meist noch eine Handlungsaufforderung oder eine Anweisung, wie man sich aufgrund dieser Bewertung zu verhalten habe.

Praktisch immer wird dann noch ein biblisches Textfragment aus dem Kontext herausgepickt, das die Richtigkeit der vorher postulierten Sichtweise bestätigen soll. „Schon in der Bibel steht: …“„Die Fremdenliebe vergesst nicht.“

Die Bibel als Quelle für Moral und Ethik?

So wird der Eindruck erweckt, die Bibel sei eine brauchbare Quelle für Moral und moderne Ethik. Das ist nicht der Fall.

Aus der vor tausenden Widersprüchen strotzenden biblischen Mythen- und Legendensammlung lässt sich praktisch jede beliebige Aussage herauslesen (oder in sie hineininterpretieren). Von Nächstenliebe bis zum Völkermord. Welchen Satz oder Halbsatz der Leser (oder hier der Verkündiger) aus diesem Sammelsurium für bedeutsam hält und herauspickt, liegt einzig bei ihm. Die Bibel ist nach katholischer Lehrmeinung nach wie vor das vollumfänglich von Gott höchstselbst geoffenbarte „Wort Gottes.“ Vollumfänglich heißt, dass alles, was drinsteht, auch gilt.

Es wird so getan, als handle es sich bei der Bibel um einen Text mit einer einheitlichen Gesamtaussage. Und diese Aussage soll gar noch unseren heutigen ethischen Standards entsprechen. Diesen Eindruck kann man nur erwecken, indem man konsequent den größten Teil der Bibel ignoriert. Und nur hochselektiv das zitiert, was irgendwie passend interpretiert oder umgedeutet werden kann.

Da sich wohl kaum noch jemand die Mühe macht, sich den Kontext von Bibelzitaten näher anzusehen, dürfte auch kaum jemand merken, dass dieses Bild der biblischen Aussage ein höchst selektives ist. Wo die modernen Verkünder auch immer ihr Wissen und ihre ethischen Standards her haben mögen, welche Bibelstellen sie auswählen und welche nicht: Aus der Bibel selbst können sie es nicht haben.

Die Fremdenliebe vergesst nicht – und das Alte Testament

Und so auch in der heutigen Verkündigung von Alfred Buß. Ausgehend von der Geschichte eines von einer menschenverachtender Ideologie beeinflussten Soldaten führt zur Behauptung, dass Fremdenliebe das sei, was aller Welt fehlt. Und natürlich darf eine diesbezügliche Bibelstelle nicht fehlen:

[…] „Die Geschwisterliebe bleibe“ – sagt das Neue Testament, im Hebräerbrief, Kapitel 13 – um fortzufahren: „Die Fremdenliebe vergesst nicht.“

[…] Und doch ist Fremdenliebe das, was aller Welt fehlt: Nicht nur sich selber, den Andersartigen sehen! Ihn würdigen. Darin liegt ein großes Versprechen: Die Fremdenliebe vergeßt nicht, sagt die Bibel – denn durch sie haben manche – ohne ihr Wissen – Engel beherbergt.*

Vorab: Es ist völlig unklar, wer diesen Text, der unter der Bezeichnung „Hebräerbrief“ in die biblische Geschichtensammlung aufgenommen worden war, überhaupt verfasst hat:

  • Aufgrund des ausgezeichneten griechischen Stils, des umfangreichen Wortschatzes und der eingehenden Kenntnis des Alten Testaments in der Form der Septuaginta ist als Verfasser ein griechisch gebildeter Judenchrist anzunehmen, der dem hellenistischen Flügel angehörte. (Quelle: Wikipedia)

Wir haben es hier also mit Aussagen eines Unbekannten zu tun. Wir wissen nicht, wie dieser anonyme Autor zu seinen Erkenntnissen gelangt war. Woher er wusste, welche Textstellen im Alten Testament er für seine Zusammenstellung auswählen sollte. Und wieso er genau diese und keine anderen Anweisungen gab.

Hebräerbrief: Ein Blick auf den Kontext

Hinweise darauf, wie es um Moral und Ethik des Verfassers bestellt war, finden sich im Kontext, aus dem das Zitat von der Fremdenliebe herausgepickt worden war. Hier einige Beispiel (Hervorhebungen von mir):

  • Der Autor verbietet Sex: Die Ehe soll in Ehren gehalten werden bei allen und das Ehebett unbefleckt; denn die Unzüchtigen und die Ehebrecher wird Gott richten. (Quelle: Hebr 13, 4 LUT)
  • Der Autor verbietet fremde Lehren: Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen keinen Nutzen haben, die damit umgehen. (Quelle: Hebr 13, 9 LUT***)
  • Mitmenschlichkeit, um Gott zu gefallen: Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott. (Quelle: Hebr 13, 16 LUT)
  • Der Autor ermahnt zur Obrigkeitshörigkeit: Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen – und dafür müssen sie Rechenschaft geben -, damit sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn das wäre nicht gut für euch. (Quelle: Hebr 13,17 LUT)

Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen

Und es finden sich noch viele weitere Beispiele der fragwürdigen Moral und des furchtbaren Gottesbildes, das  der Schreiber vertritt:

  • […] und habt bereits den Trost vergessen, der zu euch redet wie zu seinen Kindern (Sprüche 3,11-12): »Mein Sohn, achte nicht gering die Erziehung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.« Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr dulden müsst. Wie mit seinen Kindern geht Gott mit euch um; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, die doch alle erfahren haben, so seid ihr Ausgestoßene und nicht Kinder. Wenn unsre leiblichen Väter uns gezüchtigt haben und wir sie doch geachtet haben, sollten wir uns dann nicht viel mehr unterordnen dem geistlichen Vater, damit wir leben? Denn jene haben uns gezüchtigt für wenige Tage nach ihrem Gutdünken, dieser aber tut es zu unserm Besten, damit wir an seiner Heiligkeit Anteil erlangen. Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein; danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit. (Quelle: Hebr 12,5-11 LUT)
  • Der Autor bekräftigt das alttestamentarische Bild des rachsüchtigen, gnadenlosen Gottes: Wenn jemand das Gesetz des Mose bricht, muss er sterben ohne Erbarmen auf zwei oder drei Zeugen hin. Eine wie viel härtere Strafe, meint ihr, wird der verdienen, der den Sohn Gottes mit Füßen tritt und das Blut des Bundes für unrein hält, durch das er doch geheiligt wurde, und den Geist der Gnade schmäht? Denn wir kennen den, der gesagt hat (5.Mose 32,35-36): »Die Rache ist mein, ich will vergelten«, und wiederum: »Der Herr wird sein Volk richten.« Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. (Quelle: Hebr 10, 28-31 LUT)

Diese Stellen tauchen seltsamerweise so gut wie nie in christlichen Verkündigungen auf. Stattdessen bekommt man heutzutage die Fremdenliebe präsentiert.

Fremdenliebe: toll! Kinder schlagen: auch toll?

Weite Teile des Hebräerbrief-Textes (insgesamt 23 Stellen) dienen offenbar nur dem Zweck, den Eindruck zu erwecken, die Prophezeiungen aus dem Alten Testament hätten sich jetzt erfüllt. Eine solche Zusammenstellung von Textstellen bezeichnet man euphemistisch als Florilegium (lat. für Blütenlese oder Sammlung von Blumen).

Was im Grunde nichts anderes als Rosinenpicken (engl. Cherry Picking) ist. Eine bestimmte Aussage wird mit gezielt herausgepickten Zitaten und Textstellen bekräftigt. Man bediente sich also auch damals schon derselben unredlichen Methoden im Umgang mit Texten wie heute.. Ein theologischer Text-Trick mit Tradition, sozusagen.

Ja: Die Fremdenliebe vergesst nicht – denn durch sie haben manche Engel beherbergt.

Vorschlag für eine zeitgemäße Version

Es erscheint kaum realistisch, alle Menschen, also Bekannte und Fremde gleichermaßen zu lieben, wie es der unbekannte antike Autor einst den Hebräern verordnete. Aber ist das überhaupt erforderlich?

Wäre es nicht viel wichtiger, dass sich alle Menschen allen Menschen gegenüber fair verhalten? Dem Nächsten genauso wie dem Fernsten? Und zwar nicht, weil sich darunter vielleicht ein „Engel“ befinden könnte? Weil man göttliche Strafe zu befürchten hätte, wenn man dessen Gesandten nicht angemessen behandeln würde? Sondern weil es jeder Mensch um seinetwillen verdient hat, fair behandelt zu werden?

Es ist sicher kein Zufall, dass sich Herr Buß die Stelle mit der Fremdenliebe herausgepickt hat. Und nicht zum Beispiel eine der anderen Stellen, die genauso im Hebräerbrief stehen. Herr Buß hat also ganz offensichtlich einenn bestimmten ethischen Maßstab, der aber eben nicht aus der Bibel stammen kann.

Deshalb frage ich mich und auch ihn, wofür man einen antiken Text unbekannter Herkunft mit äußerst fragwürdiger Gesamtaussage heute überhaupt noch benötigt.

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