Erkenntnis – Teil 2: Der Vorstellungshorizont, oder: Die wunderbare Welt der Phantasie

Lesezeit: ~ 5 Min.

In unserer neuen  Serie Erkenntnis geht es um die Frage, wie Menschen Erkenntnisse erlangen. Was bedeutet eigentlich “Wissen”? Und wie gehst du mit Dingen um, die du (noch) nicht weißt?

Im 1. Teil hatten wir den Erkenntnishorizont betrachtet. Dieser begrenzt deine Erkenntnislandkarte. Innerhalb dieser Landkarte ist das beheimatet, was du weißt.

Jetzt erforschen wir den Bereich, der hinter dem Erkenntnishorizont liegt: Die Welt deiner Vorstellung.

Vorstellungshorizont
Grafik 2.1: Der Vorstellungshorizont – © AWQ.DE

Natürlich zählt auch das, was in diesem Bereich liegt, zu deiner Erkenntnislandschaft. Allerdings unterscheiden sich die Dinge dort von den Dingen, die vor dem Erkenntnishorizont liegen.

Damit du etwas innerhalb der Erkenntnislandkarte positionieren kannst, muss es den strengen Kriterien entsprechen, die Wissen von Vorstellung unterscheiden. Im Bereich der Vorstellung sieht das anders aus.

Die Gedanken sind frei!

Für diese Region gibt es eigentlich gar keine Grenzen. Und ganz sicher keine Regeln. Denn alles, was du dir nur vorstellen kannst, befindet sich hier. Der Vorstellungsbereich wird lediglich, wenn überhaupt, vom Vorstellungshorizont begrenzt.

Logik? Evidenz? Empirie? Rationales Denken? Egal! In deiner Vorstellung kannst du dir ausdenken, was du möchtest. Du kannst dir hier jeden beliebigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zusammenbasteln. Oder ganz darauf verzichten. Deine Sache!

Wenn ein Land die Bezeichnung „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ verdient, dann ist es das Land der Vorstellung.  Wie die Dinge wirklich sind, spielt hier keine Rolle.

Abschied von der Zahnfee

Wahrscheinlich gab es auch in deinem Leben eine Zeit, in der du oft an der Grenze zwischen deiner Erkenntnis- und deiner Vorstellungswelt unterwegs warst. Das war die Zeit, in der du Vorstellungen aus der Erkenntnis- in die Vorstellungswelt hinüberbegleitet hast: Den Osterhasen, den Nikolaus, die Zahnfee… Kannst du dich noch daran erinnern?

Aber auch in diesem Bereich kannst du wieder für etwas Ordnung sorgen. Dinge, die es gerade so nicht in den Erkenntnisbereich geschafft haben, liegen ganz dicht hinter dem Erkenntnishorizont. Vielleicht fehlt nur ein kleines Detail. Oder: Obwohl in deinem Denkmodell alles schlüssig zu sein scheint, gibt es vielleicht noch einen kleinen Logikverstoß, der eine Verlegung auf die Erkenntnislandkarte verhindert.

Je weiter in Richtung Vorstellungshorizont du dich bewegst, umso phantastischer wird es. Bei einer Wanderung durch das Land der Vorstellung kommst du zunächst an Hypothesen vorbei. Das sind Denkmodelle, die etwa auf einer Vermutung, einer noch nicht bewiesenen Behauptung oder einer Annahme basieren. Hypothesen beginnen deshalb redlicherweise mit „Ich nehme mal an, dass…“

Und es wird immer doller

VorstellungshorizontWeiter gehts, vorbei an Fiktionen, Illusionen, Romanhelden, Märchenfiguren und Einhörnern. Über dir kreist der Klapperstorch mit Baby im Schnabel sowie einige Gegenstände, die sich in deiner Vorstellung nicht an die Schwerkraft halten. Etwas weiter entfernt unterhält sich die Zahnfee mit Dornröschen über die Frage, ob die Biene Maja eigentlich inzwischen Willy geheiratet hat.

In einer weiteren Region sind die Mythen und Legenden zu finden. Gläubige Menschen begegnen hier ihren vielen tausend Göttern, die sie sich schon ausgedacht haben.  Die sie bei Bedarf aber auch in andere Bereiche ihrer Erkenntnislandschaft verlegen, wie wir später noch sehen werden.

Noch weiter hinten beginnt die Region der wilden Spekulation. Vielleicht möchtest du auch noch kurz in der „Bar jeder Vernunft“ auf einen Pangalaktischen Donnergurgler einkehren? Nur zu! Dort triffst du auch deine Wünsche, Visionen, Träume und Spinnereien aller Art. Denn wer schlachtet schon gerne einen Tausendfüßler?

Genau wie sich die Lage deines Erkenntnishorizontes verschieben kann, ist auch der Vorstellungshorizont keine feste, unveränderliche Grenze. Bei Menschen mit besonders viel Phantasie könnte es sogar sein, dass sie diese Grenze nie erreichen. Denn was sollte noch jenseits des Vorstellungshorizontes kommen können? Dieser Frage werden wir im nächsten Teil auf den Grund gehen.

Der Preis der gedanklichen Freiheit

Diese fast grenzenlose Freiheit hat allerdings auch ihren Preis. Denn so schillernd, so verlockend und wunderbar auch alles hier Befindliche sein mag: Es steht (leider) nicht als gesichertes Wissen oder als Tatsache zur Verfügung!

Du stellst dir vor, der ultimative Superheld zu sein? Der alle nur erdenklichen Eigenschaften aller Superhelden in sich vereint? Kein Problem! Aber dir dürfte sicher klar sein, dass du deswegen einen Schnellzug trotzdem nicht mit bloßen Händen stoppen kannst. Nicht mal dann, wenn du dein Superhelden-Cape trägst.

Wie tief du auch in die Welt deiner Vorstellung und Phantasie eindringst: Denke immer daran, dass hier deine Werkzeuge, mit denen du rationale Erkenntnisse prüfen kannst, nicht funktionieren.

Über alles, was du auf der Vorstellungslandkarte ansiedelst, kannst du sagen: „Das kann ich mir ausdenken.“ Oder: „Das vermute ich.“

Du ahnst sicher schon, was du redlicherweise über die Dinge auf deiner Vorstellungslandkarte nicht sagen kannst: „Das weiß ich.“

Wikipedia erklärt, was unter Redlichkeit zu verstehen ist:

  • Der Kern der Redlichkeit ist die Übereinstimmung der Rede einer Person mit dem, was diese Person tut.

Es geht dabei also um Aufrichtigkeit, um Stimmigkeit. Bezogen auf das Thema Erkenntnis kannst du Redlichkeit auch als Ehrlichkeit dir selbst gegenüber definieren. Denn wenn du ehrlich zu dir selbst bist, dürfte es dir relativ problemlos gelingen zu entscheiden, was du auf der Erkenntnislandkarte und was du von deiner Vorstellungs- auf die Erkenntnislandkarte verschieben kannst und was nicht. Die Werkzeuge dazu hatten wir im letzten Teil ja schon näher betrachtet.

Darauf solltest du achten

Die wichtigste Erkenntnis zum Vorstellungshorizont ist, dass du die Dinge in dieser Region nicht wissen, sondern nur annehmen kannst. Diese Dinge können wahr sein, müssen sie aber nicht. Deshalb kann das, was du auf der Vorstellungslandkarte platzierst, nicht die Gültigkeit haben wie das, was sich auf deiner Erkenntnislandkarte befindet.

Wenn du trotzdem so tun würdest, als seinen die Dinge in deiner Vorstellungswelt so wahr wie die Dinge deiner Erkenntnislandkarte, dann wäre das unredlich. Wenn du Vermutung und Erkenntnis vermischst, verzichtest du auf das mächtigste Werkzeug zum Erkenntnisgewinn – das rationale Denken. Also auf die Methode, mit der du brauchbare Erkenntnisse, die in der Wirklichkeit gelten, gewinnen kannst.

Rationales Denken heißt nicht, dass du auf die Region des Vorstellungshorizontes verzichten sollst – im Gegenteil! Denn die menschliche Phantasie ist wohl eine, wenn nicht sogar die außergewöhnlichste Fähigkeit, die uns die Evolution beschert hat.

Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du dir die wildesten Hypothesen ausdenkst oder die absurdesten Spekulationen anstellst.

Nur solltest du niemals Wirklichkeit und Fiktion durcheinanderbringen!

Das mag dir vielleicht lächerlich einleuchtend erscheinen. Wie wir noch sehen werden, kann aber genau das zu massiven Problemen führen. Denn es gibt Menschen, die zwar ihre Erkenntnis- und Vorstellungswelt vielleicht sogar höchst pingelig präzise getrennt halten – bis auf ganz bestimmte Dinge, für die sie sich eine Ausnahme eingerichtet haben.

Zusammenfassung des 2. Teils

Hinter dem Erkenntnishorizont beginnt dein Vorstellungshorizont. Hier findest du alles, was du dir nur vorstellen kannst, ungeachtet jeder Logik, Vernunft und Gesetzmäßigkeit. Mit den Werkzeugen aus Teil 1 kannst du entscheiden, was du auf deiner Erkenntnis- und was auf deiner Vorstellungslandkarte du platzierst.

Mache ausgiebig Gebrauch von deiner Phantasie, aber achte darauf, dass du Hypothesen immer wie Hypothesen behandelst und nicht wie Tatsachen! Das gilt auch für alle Erkenntnisse, die du aus Hypothesen ableitest. Solange eine Erkenntnis auf einer Hypothese basiert, sind auch alle weiteren Erkenntnisse hypothetisch.

Wenn du Dinge, die eigentlich auf die Vorstellungslandkarte gehören, auf die Erkenntnislandkarte verschiebst, dann handelst du unredlich.  Die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit macht rationales Denken schwer bis unmöglich.

Vorstellungshorizont
Grafik 2.2: Dein Vorstellungshorizont – © AWQ.DE

Vielen Dank für dein Interesse bis hierher! Im nächsten Teil wagen wir mal einen Blick in die Region jenseits deines Vorstellungshorizontes. Es bleibt spannend!

Fragen, Ergänzungen, Korrekturen?

Das Thema Erkenntnis ist ein ziemlich komplexes Thema. Ich habe versucht, einige wichtige Aspekte möglichst einfach und verständlich darzustellen. Meine Artikel erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit. Wie schon angedeutet, sehen verschiedene Philosophen und Wissenschaftler einige Dinge grundlegend anders als von mir dargestellt.

Deshalb freue ich mich über deine Fragen, Ergänzungen und Korrekturen.

Bis bald!

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