Wer ist eigentlich mein Nächster und was würde Luther heute wählen?

Lesezeit: ~ 6 Min.

Wer ist eigentlich mein „Nächster“ und was würde Luther heute wählen? – Gedanken zur Vereinnahmung religiöser Aussagen für politische Zwecke

Der AfD-Bundestagskandidat Martin Hohmann erklärt in seiner Wahlwerbung, dass seine „Nächsten“ nicht die „jungen Männer aus Afrika“ seien. Ein online veröffentliches Wahlplakat mit dieser Aussage zeigt Hohmann, Pfarrgemeinderatsmitarbeiter und stellvertretenden Verwaltungsratsvorsitzenden der Kirchengemeinde Neuhof, im Hintergrund die Kirche von Neuhof.

Das Bistum Fulda und die CDU empören sich über diese Vereinnahmung christlicher Werte – oder genauer dessen, was sie darunter verstehen.

Die Frage, wer nach christlichem Verständnis eigentlich der Nächste ist, könnte sicher einen langen und intellektuellen theologischen Diskurs in Gang setzen. (Quelle: fuldaerzeitung.de*)

Der intellektuelle Diskurs wäre gar nicht so lang wie von der Redakteurin befürchtet. Die biblische Grundlage ist erstaunlich eindeutig, wenn es um die Definition dessen geht, was mit  „Nächster“ gemeint sein soll.

Der Nächste: Mitglied der eigenen Glaubensgemeinschaft

Fasst man die biblische Gesamtaussage zusammen, so ist mit „Nächster“ tatsächlich nur der Nächste gemeint, genauer: Der Zugehörige zur eigenen Glaubensgemeinschaft. Was alle anderen erwartet, wird sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament detailliert beschrieben:

  • Ich zermalme sie zu Staub vor dem Wind, schütte sie auf die Straße wie Unrat. Du rettest mich vor zahllosem Kriegsvolk, du machst mich zum Haupt über ganze Völker. Stämme, die ich früher nicht kannte, sind mir nun untertan. Sobald sie mich nur hören, gehorchen sie. Mir huldigen die Söhne der Fremde, sie kommen zitternd aus ihren Burgen hervor. Es lebt der Herr! Mein Fels sei gepriesen. Der Gott meines Heils sei hoch erhoben; denn Gott verschaffte mir Vergeltung und unterwarf mir die Völker. Du hast mich von meinen Feinden befreit, mich über meine Gegner erhoben, dem Mann der Gewalt mich entrissen. (Ps 18, 43-49 EU)
  • [Jesus spricht:] Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder! (Lk 19, 27 EU)
  • [Jesus spricht:] Weiter ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Netz, das man ins Meer warf, um Fische aller Art zu fangen. Als es voll war, zogen es die Fischer ans Ufer; sie setzten sich, lasen die guten Fische aus und legten sie in Körbe, die schlechten aber warfen sie weg. So wird es auch am Ende der Welt sein: Die Engel werden kommen und die Bösen von den Gerechten trennen und in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen. (Mt 13, 47-50 EU)

…und was ist mit der Feindesliebe?

Diese Beispiele lassen sich quasi beliebig vermehren. Sie ergeben ein Gesamtbild, das so gar nicht dem entspricht, wie die Kirchendiener das heute gerne darstellen und verstanden wissen möchten. Denn wenn nur noch ein Christ als „Nächster“ gelten sollte, wäre die christliche Nächstenliebe eine sehr überschaubare Angelegenheit…

Auch das oft gepriesene Gebot der Feindesliebe bezieht sich nur auf Feinde innerhalb dieser Gemeinschaft (Hervorhebung von mir):

  • Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. (Jo 15, 10-14 EU)

In Ketten werden sie hinter dir herziehen…

Wer ist wie Gott?
Wer ist wie Gott?**

Was die jungen Männer aus Afrika betrifft: Die könnten von christlichen Völkern auch ohne Weiteres versklavt werden, wenn man sich an der Bibel orientiert:

  • So spricht der Herr: Die Ägypter mit ihren Erträgen, die Kuschiter mit ihrem Gewinn und die groß gewachsenen Sebaiter werden zu dir kommen und dir gehören; in Ketten werden sie hinter dir herziehen. Sie werfen sich nieder vor dir und bekennen: Nur bei dir gibt es einen Gott und sonst gibt es keinen. (Jes 45, 14 EU)
  • Denn ich, der Herr, bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein Retter. Ich gebe Ägypten als Kaufpreis für dich, Kusch und Seba gebe ich für dich. Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben ganze Völker. (Jes 43,3-4 EU)

Lang wird der Diskurs erst, wenn Theologen sich daran machen, diese Aussage so umzudeuten, dass daraus eine Nächstenliebe wird, die sich auf alle Menschen bezieht. Dazu bedarf es rhetorischer Winkelzüge, Uminterpretierungen und umfangreicher Weglassung biblischer Stellen, die nicht ins gewünschte Bild passen.

Mit dieser Aufgabe haben sich schon viele Theologen befasst. Und haben es geschafft, dass heute selbst glaubensfrei lebende Menschen die christliche Nächstenliebe trotzdem noch für etwas irgendwie grundsätzlich schon eher Positives halten.

Problematisch: Christliche Nächstenliebe

Dabei ist die christliche Nächstenliebe gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch, zum Beispiel:

Wer ist denn nun mein „Nächster“ ?

Es ist keineswegs so klar, wer mit „Nächster“ gemeint sein soll. Herr Hohmann findet problemlos Bibelstellen, die seine Vorstellung bestätigen. Schwerer haben es da schon die Kirchendiener des Bistums Fulda oder die politischen Gegner von der CDU, wenn sie ihre Vorstellung, mit „Nächster“ seien alle Menschen gemeint biblisch untermauern möchten.

Dieses Pseudoproblem ist ein Theologisches und somit künstlich Geschaffenes. Es lässt sich leicht beheben. Indem man den Umgang mit den Mitmenschen nicht von deren Nähe oder Distanz zu einem selbst abhängig macht, wie das in der Bibel der Fall ist.

Sondern, indem man statt einer Mythen- und Legendensammlung aus der Bronzezeit und aus dem Vormittelalter die so genannten Menschenrechte als Basis verwendet (Hervorhebung von mir):

  • Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen gleichermaßen zustehen. Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins mit gleichen Rechten ausgestattet und dass diese egalitär begründeten Rechte universell, unveräußerlich und unteilbar sind. (Quelle: Wikipedia)

Unrealistisch: Alle Menschen lieben

Alle „Nächsten“ – egal nach welcher Auslegung des Begriffs – zu lieben, erscheint ziemlich unrealistisch. Und es ist auch gar nicht erforderlich. Denn eine, nicht selten sowieso nur geheuchelte Liebe kann und sollte durch einen fairen Umgang miteinander ersetzt werden. Auch Menschen, die sich nicht lieben, können miteinander fair umgehen. Und zwar mit den Nächsten genauso wie mit den Fernsten.

Und so lautet auch das 2. Angebot des evolutionären Humanismus:

  • Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten!
    Du wirst nicht alle Menschen lieben können, aber du solltest respektieren, dass jeder Mensch – auch der von dir ungeliebte! – das Recht hat, seine individuellen Vorstellungen von „gutem Leben (und Sterben) im Diesseits“ zu verwirklichen, sofern er dadurch nicht gegen die gleichberechtigten Interessen Anderer verstößt.
    (Quelle: gbs)

Sobald beliebig auslegbare Mythen und Legenden ins Spiel kommen, entsteht schnell eine ganze Reihe von Problemen. Schon allein, weil es dem Christentum an einer klaren, verlässlichen und eindeutigen Grundlage mangelt, scheidet die christliche Kirche als brauchbare Moralquelle aus. Es spielt heute einfach keine Rolle mehr, wen die literarische Kunstfigur Jesus Christus damals wirklich mit „Nächster“ gemeint hat und wen nicht.

Gott als Anwalt der Fremden?

Generalvikar Prof. Gerhard Stanke erklärt dazu wörtlich: „Wer Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Nationalität nicht als Nächste ansieht, stellt sich in Widerspruch zur Heiligen Schrift. Im Alten Testament wird wiederholt gesagt, dass Gott ein Anwalt der Fremden ist.“

Nächster
Gott als Anwalt der Fremden

Was Herr Prof. Gerhard Stanke nicht erwähnt: Voraussetzung für die göttliche Anwaltschaft ist, dass die Fremden Gott und nur diesen Gott als einzigen Gott anerkennen.

Und wenn man das Alte Testament zugrunde legt, dann ist die Message zum Thema „Nächster“ ganz einfach: Alle Un- und Andersgläubigen sind entweder zu bekehren oder gnadenlos zu vernichten.

Interessant finde ich, dass Herr Prof. Stanke hier ausdrücklich das Alte Testament nennt. Also den Teil der Bibel, der aufgrund seiner geradezu psychedelischen Verworrenheit, gnadenlosen Grausamkeit und allgegenwärtigen Unmenschlichkeit von Christen gerne auch als „vom Neuen Testament aufgehoben“ ausgegeben wird.

Die Bibel hat für alle was

Die Bibel, der als „Wort Gottes“ bis heute eine übergeordnete Bedeutung zugeschrieben wird, hat einfach für fast alle etwas zu bieten – auch für AfD, CDU oder NPD…

Moderne ethische Standards orientieren sich nicht mehr am vermeintlichen Willen eines Götterwesens mit mehr als fragwürdigem Charakter. Sondern an der Würde und Freiheit des Individuums.

Genauso, wie wohl kaum jemand auf die Idee kommen würde, in der Ilias, dem Gilgamesh-Epos oder im Nibelungenlied nach Handlungsanweisungen für die Menschheit im 21. Jahrhundert zu suchen, hat auch die biblische Lehre, die sich Menschen in der Bronzezeit und im Vormittelalter zur leichteren Führung eines Volkes ausgedacht hatten, längst ausgedient.

Wen würde Luther heute wählen?

Nicht nur die christliche Nächstenliebe wird für politische Zwecke instrumentalisiert. Auch der Quasiheilige, Reformator, Frauenhasser und Antisemit Dr. Martin Luther eignet sich – wie schon im 3. Reich – auch heute offenbar noch (bzw. wieder) als Protagonist für nationalistisches, fremdenfeindliches Gedankengut. Meinen zumindest die Nationalsozialisten von der NPD:

  • Der Evangelische Kirchenkreis Trier bewertete das Motiv als Instrumentalisierung von Luther durch die NPD. Es sei „ein Ärgernis“ und „eine Provokation“, wie Pfarrer Reinhard Müller gegenüber dem SWR erklärte.
  • Anders bewertet es Bernd Kammermeier, der sich intensiv und kritisch mit Luthers Schriften beschäftigt hat. Für ihn sei es sogar vorstellbar, dass Luther heute NPD-Wähler wäre: „Extremisten – und wer mag bestreiten, dass Luther ein fundamentalistischer Extremist war? – wählen oft Extremisten“, so Kammermeier in einem Kommentar auf dem hpd. (Quelle: hpd)

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**Dieses Bild zeigt eine Statue, die in der katholischen Kirche in Reichenbach (Münnerstadt, Landkreis Bad Kissingen) zur Schau gestellt wird. Ein bewaffneter, weißhäutiger Engel in Soldatenmontur steht auf einem, sich im Todeskampf windenden Menschen mit schwarzer Hautfarbe und den Gesichtszügen eines Afrikaners. Die Aufschrift des Schildes, das der Gotteskrieger hochhält: Quis ut deus? – Wer ist wie Gott?

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