Hinten anstellen! – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 10 Min.

Hinten anstellen! – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Christian Rommert (ev.), veröffentlicht am 25.4.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Herr Rommert erklärt soziales Verhalten zu „Gottesdienst“, obwohl es dabei ja um Menschen geht und nicht um Götter. Statt mit Gemeinschafts- und Eigennutz argumentiert er mit illusorischer Nächstenliebe. Kadavergehorsam („Ohne Wenn und Aber“) hält er offenbar für angebrachter als eine kritische Interessensabwägung, wie sie in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung vorgesehen ist.

In seiner heutigen Fernsehpredigt plaudert Herr Rommert über den Umgang der Gesellschaft mit den Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.

Zunächst berichtet Herr Rommert von seinen eigenen Erlebnissen: Viele Menschen zeigten demzufolge keine oder nur wenig Einsicht für die derzeit angeordneten Regeln wie Abstand halten. Oder inzwischen auch die Pflicht, Mund-/Nasenschutzmasken zu tragen.

Egoismus als Motiv für Kirchenschließungskritik?

Die Kritik an den Kirchenvertretern, die das (mittlerweile schon wieder gelockerte) Gottesdienstverbot teils scharf kritisieren (wie zum Beispiel Peter Hahne), biegt er geschickt auf das Motiv Egoismus um:

[…] Als Pastor würde ich Ihnen gerne erzählen, dass wenigstens Christen und Kirchen ein leuchtendes Beispiel für verantwortungsvolles Handeln abgeben. Alles tun, damit es dem Nächsten gut geht. Machen viele ja auch. Aber zugleich hörte ich in den letzten Tagen: „Warum darf der Frisör öffnen und wir dürfen nicht in den Gottesdienst? Wir fordern öffentliche Gottesdienste!“. Ich kann es nachempfinden. Aber eigentlich ist auch das nichts anderes als: Ich! Ich! Ich! Ich will jetzt auch! Denn ich bin wichtig!
(Quelle: Hinten anstellen! – Wort zum Sonntag, verkündigt von Christian Rommert, veröffentlicht am 25.4.2020 von ARD/daserste.de)

Aus Sicht vieler Schäfchen mag das sicher zutreffen. Religiöser Glaube ist ja an sich schon eine höchst egoistische Angelegenheit. Gläubige versprechen sich von ihrem Glauben Vorteile für sich selbst: Schon im Diesseits durch das wohlige Gefühl, zu den „Guten“ zu gehören. Und sich dank „Auserwählung“ oder „Erlösung“ Glaubensfreien und Andersgläubigen gegenüber bevorzugt und überlegen zu fühlen.

Und natürlich auch im fiktiven „Jenseits.“ Durch die Vorstellung, wegen ihres Glaubens dereinst von ihrem Gott belohnt zu werden. Immer mit der beruhigenden Gewissheit im Hinterkopf, dass ihr Gott alle, die ihn nicht anerkennen, verehren und die nicht bereit sind, sich ihm zu unterwerfen, deswegen mit ewiger Höllenfolter angemessen bestrafen wird.

Selbst dann, wenn viele Christen den Bestrafungsaspekt ihrer Religion eigentlich schon mehr oder weniger aus ihrer persönlichen Glaubensvorstellung verbannt haben, funktioniert der ganze biblische Erlösungsquatsch nicht ohne Hölle.

…oder worum könnte es sonst noch gehen?

Aber geht es auch den kritisierenden und klagenden Kirchenfunktionären wie Herrn Hahne und Konsorten tatsächlich vorrangig um sie selbst? War tatsächlich persönlicher Egoismus der Grund für Versuche kirchlicherseits, per Eilverfahren gegen das Versammlungsverbot vorzugehen, von dem eben auch Gottesdienste betroffen waren bzw. sind?

Zu diesem Vorgehen schreibt der Autor Tom Kreib aus Buxtehude in einem Kommentar sehr treffend und sachlich:

  • […] Haben Kirche und Religion andere, tiefergehende Rechte? Ich finde nicht und die Klagen gegen nachvollziehbare – wenn auch harte – Verbote sind kein Zeichen von Solidarität. Daran ändert sich auch nichts, weil der Staat die Religionsfreiheit garantiert. In Artikel elf, dort wird die Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet garantiert, steht, dass dieses Recht unter anderem bei Seuchengefahr eingeschränkt werden darf. Hier endet also derzeit auch die Freizügigkeit, eine Kirche für den Gottesdienst zu besuchen – egal ob in Konstanz oder Flensburg.
    (Quelle: kreiszeitung-wochenblatt.de, Tom Kreib: Ist Religionsfreiheit mehr wert als andere Grundrechte? – Warum ich Klagen gegen Gottesdienst-Verbot falsch finde, 7. April 2020, abgerufen am 28.4.2020)

Ging es den klagenden Kirchenvertretern bei der Anrufung weltlicher Gerichte und medienwirksam geäußerter Kritik tatsächlich um sie persönlich?

Wohl höchstens indirekt. Natürlich hängt auch das Einkommen eines Priesters/Pastors/Pfarrers/Theologen davon ab, dass die kritische Masse an Schäfchen nicht unterschritten wird, ab der es der Kirche nicht mehr gelingen würde, ihre millionenschwere Alimentierung und beispiellose staatliche Sonderprivilegierung vermittels ihres ebenfalls beispiellosen Lobbynetzwerkes weiter wie bisher durchzusetzen.

Corona-Krise wird zum Relevanz-Härtetest von Gottesdiensten

Und so betrachtet wäre die klerikale Befürchtung durchaus nachvollziehbar, dass durch ein vorübergehendes Versammlungsverbot aus gewichtigen Gründen die irrelevanten und absurden Aspekte gottesdienstlicher Zeremonien und in der Folge deren Entbehrlichkeit für zu viele Noch-Kirchgänger zu offensichtlich werden könnten.

„…Ostern war ja auch ganz ohne Kirchenbesuch ganz schön…“ wäre aus kirchlicher Sicht quasi die Worst-Case-Reaktion ihrer Kundschaft. Krisenzeiten sind auch immer Zeiten, in denen sich herausstellt, was wirklich „systemrelevant“ ist und was nicht. Und auch, welche Maßnahmen tatsächlich funktionieren und welche nicht. Und das gilt nicht nur für Gebete.

Auch das finanzielle Defizit durch ausfallende Kollekten dürfte für die Kirchenkonzerne von größerer Bedeutung sein als sie das vermutlich öffentlich zugeben würden. Und viel bedeutsamer, als das den Schäfchen bewusst ist, die noch an das beständig kolportierte Märchen von der armen, auf ihre Almosen angewiesene Kirche glauben.

Fairerweise ist anzumerken, dass sich die Großkirchen von der Kritik am Versammlungsverbot und des daraus folgenden, vorübergehenden Gottesdienstverbotes deutlich distanzierten. Dieses Fass wollte man dann wohl doch lieber nicht aufmachen. Und auf einen weiteren Versuch, ob Beten vielleicht ja doch gegen eine Vireninfektion immunisiert, wollte man es lieber auch nicht ankommen lassen. Das hatten Gläubige ja in Südkorea, im Elsass und auch in den USA schon ausprobiert…

Gottesdienst aus biblischer Sicht (Auswahl)

Mit einer zweckdienlich herausgepickten Bibelstelle scheint die Auswirkung des Versammlungsverbotes auf den Gottesdienst für Herrn Rommert jedenfalls kein Problem zu sein. Praktischerweise bietet das biblisch-christliche Glaubenskonstrukt genug Spielraum auch für komplett gegensätzliche Standpunkte:

[…] Ich habe eine ganz andere Meinung. Was ist denn Gottesdienst? In der Bibel, in einem der Briefe an eine Gemeinde von Christen steht etwas Überraschendes: „Ein guter Gottesdienst vor Gott ist der: den Waisen und Witwen in ihrer Not beistehen und sich nicht an dem ungerechten Treiben dieser Welt beteiligen.“

Wie in praktisch allen Bereichen ist die Bibel auch diesmal wieder eine denkbar schlechte Quelle für moderne ethische Standards oder Gesetze.

Denn in der selben Bibel steht zum Beispiel auch, dass eben jener Gott Menschen bestraft, indem er höchstpersönlich Frauen und Kinder zu Witwen und Waisen macht:

  1. Keine Witwe oder Waise sollt ihr bedrücken.
  2. Wenn du sie irgendwie bedrückst und sie dann zu mir schreien, so werde ich ihr Schreien gewißlich erhören,
  3. und mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch durch das Schwert sterben lassen, so daß eure Frauen zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden.
    (Quelle: 2. Mose 22, 21-23 MENG)

…nichts als Wahn

Wenn es nicht um die Verehrung des eigenen, sondern um die zeremonielle Anbetung anderer Götter oder schon nur um eine von der eigenen Auslegung abweichende Glaubensvorstellung geht, ist die Bibel erstaunlich klarsichtig:

  • Denn der Gottesdienst der Heidenvölker ist nichts als Wahn: ein Stück Holz ist es ja, das man im Walde gehauen hat, ein Werk von Künstlerhänden, mit dem Schnitzmesser hergestellt.
    (Quelle: Jeremia 10,3 MENG)
  • Ihr ganzer Gottesdienst ist sinnlos, denn sie lehren nur Gebote, die sich Menschen ausgedacht haben.‹«
    (Quelle: Matthäus 15,9 GNB)

Mit der Klarsichtigkeit ist es natürlich sofort wieder vorbei, sobald es um die eigene religiöse Spielart geht. Bezogen auf diese Stellen: Um die eigenen (Holz-)kreuze und um die eigenen (natürlich genauso von Menschen erdachten) Gebote.

Auch Anhänger der patriarchialen, Frauen verachtenden Variante des Christentums werden in Sachen Gottesdienst in der Bibel problemlos fündig:

„Die Frau suche beim Gottesdienst Belehrung durch stilles Zuhören in aller Unterordnung“

  1. Mein Wille ist nun, daß die Männer an jedem Versammlungsort beten sollen, indem sie heilige Hände aufheben, frei von Zorn und Zweifel.
  2. Ebenso (will ich), daß die Frauen in züchtiger Kleidung im Verein mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit sich schmücken, nicht mit Haargeflechten und Goldzierat, mit Perlen oder kostbaren Gewändern,
  3. sondern, wie es sich für Frauen geziemt, welche Gottesfurcht an den Tag legen wollen, mit guten Werken.
  4. Die Frau suche (beim Gottesdienst) Belehrung durch stilles Zuhören in aller Unterordnung;
  5. dagegen gestatte ich keiner Frau, Lehrvorträge zu halten oder sich die Gewalt über den Mann anzumaßen; nein, sie soll in stiller Zurückhaltung verbleiben.
  6. Denn Adam ist zuerst geschaffen worden, danach erst Eva;
  7. auch hat nicht Adam sich verführen lassen, sondern die Frau ist dadurch, daß sie sich hat verführen lassen, in Übertretung geraten.
  8. Sie wird jedoch dadurch gerettet werden, daß sie Kindern das Leben gibt, vorausgesetzt, daß sie im Glauben, in der Liebe und in einer mit Besonnenheit vollzogenen Heiligung verharren.
    (Quelle: 1.Timotheus 2,8-15 MENG)

Von der Welt beschmutzt

Und was das ungerechte Treiben dieser Welt angeht: Man muss schon alle gängigen Bibelausgaben durchforsten, um die eine Version (Gute Nachricht Bibel) zu finden, in der an dieser Stelle von einem nicht näher definierten und somit unverfänglichen „ungerechtem Treiben“ die Rede ist.

Die meisten Ausgaben warnen stattdessen vor einer ominösen „Beschmutzung durch die Welt“. Das bei dieser Formulierung durchscheinende Selbstverständnis des Gläubigen im Verhältnis zur Welt kann die religiöse Arroganz erklären, wenn sich Menschen aufgrund ihres Glaubens für etwas Besseres, oder, um im Bild zu bleiben, für etwas Reineres halten als den Rest der Welt.

Und einige Übersetzungen machen schließlich keinen Hehl daraus, was eigentlich gemeint ist: Gottloses Treiben.

Wenn man den Glauben an den „richtigen“ Gott als Maßstab für Gerechtigkeit anlegt, dann sind Gläubige natürlich fein raus. Allerdings hat der „rechte Glaube“ Menschen noch nie davon abgehalten, sich auch unvorstellbar ungerecht zu verhalten.

Nächstenliebe ist unrealistisch – und auch gar nicht erforderlich

Nächstenliebe statt ich, ich, ich! Das ist Gottesdienst! Den Schwachen beistehen. So diene ich Gott: Auf andere Rücksicht nehmen. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst – genau jetzt.

Einmal mehr wird hier deutlich, wie unbrauchbar das Konzept der christlichen Nächstenliebe ist: Es ist weder realistisch, noch erforderlich, alle Menschen so zu lieben wie man sich selbst liebt. Es genügt völlig, sich seinen Mitmenschen gegenüber fair zu verhalten. Auch denen gegenüber, die man nicht oder nicht so sehr liebt. Und nicht nur den Nächsten, sondern auch den Fernsten gegenüber.

Den besten Beleg für die Unbrauchbarkeit christlicher Nächstenliebe liefert das Christentum selbst. Nachzulesen in der gerade schon verlinkten 10bändigen Kriminalgeschichte des Christentums.

Wem die Gesundheit und das Leben seiner Mitmenschen als Grund, sich rücksichtsvoll zu verhalten nicht ausreicht, der möge sich eben noch zusätzlich einbilden, damit auch seinem Gott zu dienen.

Gottesdienst und religiöser Glaube: Risiken und Nebenwirkungen

Wer sowas nötig hat, sollte sich allerdings vor Augen führen, dass er damit einen „Gott“ künstlich am „Leben“ erhält, dem auch Verbrecher aller Art „dienen“ und die aber gänzlich andere Vorstellungen davon haben, was einen ordentlichen „Gottesdienst“ ausmacht. Merke: Mit Religion können auch Atombomben in den Dienst der Nächstenliebe treten. Und das funktioniert bis heute erschreckend gut, wie die Bolsonaros und Trumps dieser Welt erschreckend eindrucksvoll beweisen.

Und natürlich sollte einem bewusst sein, dass die Vorstellung, eine bestimmte Verhaltensweise diene gleichzeitig einem bestimmten Gott in der heutigen Zeit für immer mehr Menschen schlicht völlig irrelevant ist. Ethische Standards, aber auch Gesetze und Verordnungen können deshalb nicht mehr aus magisch-esoterischen Quellen hergeleitet werden.

In einem freiheitlich-demokratischen Säkularstaat dürfen sich Menschen natürlich auch weiterhin am biblisch-christlichen, höchst unmoralischen und unmenschlichen Belohnungs-Bestrafungskonzept erfreuen. Solange sie damit keine Interessen ihrer Mitmenschen verletzen oder deren Gesundheit gefährden.

Für alles, was für die gesamte Bevölkerung gelten soll, können und dürfen Religionen allerdings nichts mehr Substantielles beitragen. Sie dürfen es nicht, weil Deutschland eine Demokratie und keine Theokratie ist (zumindest auf dem Papier).

Und sie können es nicht, weil auch das Christentum nicht mal die Mindeststandards erfüllt, um als Moralquelle zumindest theoretisch in Frage kommen zu können.

Ohne Wenn und Aber!?

[…] Doch wenn wir jetzt alle alles Mögliche fordern, riskieren wir den Kollaps. Also: Wer irgendwie kann, sollte sich jetzt freiwillig hinten anstellen, egal welches Recht es gibt, das er einfordern kann. Das ist eine schwere Kost. Rücksicht, Gemeinschaftssinn und Nächstenliebe. Und wenn ich dafür eine Maske tragen muss? Wo ist das Problem? Dann tu ich das. Ohne Wenn und Aber.

Blinden Kadavergehorsam („…egal welches Recht es gibt, das ich einfordern kann“, „Ohne Wenn und Aber“) halte ich für ein mindestens genauso schlechtes Argument wie das mit dem Dienst an Gott. Besonders deshalb, weil man ja versuchen müsste, möglichst alle Leute zu rücksichtsvollem Verhalten zu motivieren, um die gewünschte bzw. erhoffte Wirkung erzielen zu können.

Oder ist dieses „Wort zum Sonntag“ vielleicht als Extraeinladung für Christen zu verstehen? Für die Schäfchen, die es bislang noch nicht für nötig oder sinnvoll erachtet hatten, sich in dieser besonderen Situation sozial zu verhalten?

What would Luther say? …lieber nichts…

Gerade wenn solche Aussagen aus der evangelischen Abteilung kommen, fühlt man sich fast zwangsläufig an die diesbezüglichen Ansichten des Obrigkeitsfetischisten Martin Luther erinnert.

Obwohl es sich ja eigentlich angeboten hätte, hat Herr Rommert aus irgendwelchen Gründen darauf verzichtet, den Reformator persönlich zum Thema zu Wort kommen zu lassen. Dabei hätte Luther viel beitragen können über das rechte Verhältnis von Obrigkeit und Pöbel. Nur ein Beispiel von vielen:

  • »Man darf dem Pöbel nicht zu viel pfeifen, er wird sonst gern toll. Es ist billiger, ihm zehn Ellen abzubrechen, als ihm in einem solchen Falle eine Handbreit, ja die Breite eines Fingers einzuräumen. Und es ist besser, wenn ihm die Tyrannen hundertmal unrecht tun, als dass sie dem Tyrannen einmal unrecht tun. Denn weil ja das Unrecht gelitten werden muss, so ist vorzuziehen, durch die Obrigkeit zu leiden, als dass die Obrigkeit durch die Untertanen zu leiden hat. Denn der Pöbel besitzt und kennt kein Maß. In jedem einzelnen stecken wohl mehr als fünf Tyrannen. So ist es besser, von einem Tyrannen, d.h. von der Obrigkeit, Unrecht zu leiden als von unzähligen Tyrannen, d.h. vom Pöbel.«
    (Martin Luther, Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können, 1526, zit. nach: Glaubensstimme a.a.O., S.8)

Einschränkung der Freiheitsrechte „ohne Wenn und Aber“? Niemals!

Auch wer die aktuellen Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie ausdrücklich befürwortet und sich vernünftigerweise an diese Verordnungen hält, sollte trotzdem genauso auch ein Interesse daran haben, dass alle Maßnahmen, die eine Einschränkung seiner persönlichen Freiheit erforderlich machen, jederzeit kritisch hinterfragt werden.

Das hat nichts mit den zahlreichen kruden Verschwörungsmythen zu tun, die derzeit kursieren. Sondern damit, dass der Schutz dieser Werte einen sehr hohen Stellenwert in einer offenen und freien Gesellschaft haben muss. Auch wenn das natürlich anstrengender sein kann als blinder Gehorsam.

Wenn die Regierung, wie zum Beispiel in der aktuellen Situation mangels eines Erkenntnisstandes über wirksame(re) Strategien vorübergehend Maßnahmen anordnet, die die freiheitlichen Rechte einschränken, dann bedarf es selbstverständlich einer sehr guten Begründung. Und einer ständigen kritischen Hinterfragung, inwieweit diese Maßnahmen noch angemessen, zielführend oder erforderlich sind. Stichworte: Demokratie, Machtenteilung, Verhältnismäßigkeit…

Gerade das macht ja eine freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung aus, dass Interessen stets gegeneinander abgewogen werden. Die Interessen von Menschen. Nicht die Phantasie-Interessen von Göttern.

Mit der Strategie Better safe than sorry konnte jedenfalls das erklärte Ziel zumindest bisher erreicht werden: Einen Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in Deutschland durch einen unkontrollierbaren, sprunghaften Anstieg von Infektionen und damit furchtbare Zustände, wie sie in anderen Ländern und Erdteilen eingetreten sind zu vermeiden.

Meinungsfreiheit ist nicht gleich Handlungsfreiheit

Gerade hat der SPIEGEL zu diesem Thema einen meines Erachtens sehr lesenswerten Artikel veröffentlicht:

  • Warum muss ich mich an Regeln halten, die ich für falsch halte?
    Der Psychiater Jan Kalbitzer beschreibt, warum Meinungsfreiheit nicht Handlungsfreiheit bedeutet, woher dieses Missverständnis kommt – und warum niemand sicher sein sollte, auf der richtigen Seite zu stehen.

    (Quelle: spiegel.de: Warum muss ich mich an Regeln halten, die ich für falsch halte?, veröffentlicht am 26.04.2020, abgerufen am 28.04.2020)

Neben einer Reihe von weiteren interessanten Aspekten weist der Autor auch auf dieses Phänomen hin:

  • Trotzdem müssen diejenigen aufpassen, deren Privatmeinung momentan sehr stark mit den Regeln, die für alle gelten, übereinstimmt. Und sich selbst kritisch hinterfragen, ob sie wirklich heldenhafte Kämpfer für das Gemeinwohl sind oder nicht auch ein bisschen Glück dabei hatten, dass die aktuelle Entscheidungslage einfach gut zu dem passt, was sie ohnehin fühlen und denken. 
  • Denn der Frust jener, die sich jetzt im Recht wähnen, könnte umso größer sein, wenn sich die Regeln ändern. Es ist etwa zu vermuten, dass es Überschneidungen zwischen der Gruppe gibt, die auf der Straße penibel auf Abstandsregeln achtet, und der, die die Öffnung von Schulen boykottieren will.
    (Quelle: ebenda)

Ein näherer inhaltlicher Vergleich dessen, was Religion einerseits (in diesem Fall: protestantischer Glaube) und Wissenschaft andererseits (in diesem Fall: Psychologie/Soziologie) inhaltlich zu diesem Thema beizutragen haben, sei der geschätzten Leserschaft überlassen.

Fazit

Mehr Wissenschaft - weniger Glaube
Quelle: Netzfund

Die Zeiten, in denen man Menschen mit dem angeblichen Willen von angeblichen Göttern (bei Bedarf verstärkt durch psychische und physische Maßnahmen derer, die vorgaben, diesen Willen genau zu kennen) noch beeindrucken oder gar zu bestimmten Verhaltensweisen bringen bzw. zwingen konnte, sind zumindest hierzulande zum Glück größtenteils vorbei.

Allerdings geht auch das Verlangen von Menschen, Göttern zu dienen, seit Jahren kontinuierlich und rasant zurück: Die Vorstellung, einem sowieso schon allmächtigen, untätigen Gott auch noch für irgendwas zu danken oder ihn um irgendetwas zu bitten erscheint wohl immer mehr Menschen mindestens genauso absurd wie der zeremoniell-rituell-symbolische Verzehr von Menschenfleisch und das damit verbundene Heilsversprechen.

Und statt einer illusorischen „Nächstenliebe“ gäbe es viel stärkere und vor allem glaubensunabhängige Argumente, mit denen man Menschen dazu motivieren könnte, sich nicht asozial zu verhalten. Zum Beispiel:

Wer durch die Einhaltung der vorübergehend erlassenen Verordnungen dazu beiträgt, das Ausbreitungsrisiko zu verkleinern bzw. die Ausbreitung zu verlangsamen (und wenn es nur im einstelligen Prozentbereich ist), profitiert auch selbst davon.

Weil dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass auch dann noch medizinische Versorgungskapazitäten zur Verfügung stehen, wenn man denn mal selbst darauf angewiesen sein sollte.

Dieses Argument ist ein gutes Beispiel für das „Prinzip Eigennutz“:

  • Ich verhalte mich nicht nur der Gemeinschaft wegen solidarisch, sondern weil ich als Teil der Gesellschaft ebenfalls einen Nutzen von diesem Verhalten der Gemeinschaft habe. Anders als beim Egoismus schadet mein Eigennutz niemandem; er nutzt der Gemeinschaft und damit auch mir.
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