Der verhüllte Mensch – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

Der verhüllte Mensch – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Gereon Alter, Essen, veröffentlicht am 13.6.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

In Bezug auf das Werk des verstorbenen Künstlers Christo regt Herr Alter an, dass man doch auch mal Menschen verpacken könne, um sich nicht von deren Äußerem dazu verleiten zu lassen, sie in bestimmte Schubladen zu stecken. Der religiöse Beitrag zeigt einmal mehr, wie unbrauchbar Religion zur Lösung irdischer Probleme heute ist.

Aufhänger der heutigen Fernsehpredigt ist das Werk des Künstlers Christo. Die Botschaft des Künstlers fasst Herr Alter so zusammen:

[…] „Löst euch mal von der gewohnten Sicht! Schaut etwas genauer hin! Entdeckt, was unter der Oberfläche liegt!“. So schallte es aus all ihren Kunstaktionen.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Gereon Alter, Essen, veröffentlicht am 13.6.2020 von ARD/daserste.de)

Bis hierher wäre freilich nichts einzuwenden: Dass das künstlerische Wirken des Künstlerehepaares Menschen dazu brachte, genauer hinzuschauen, ist sicher unbestritten und dürfte auch beabsichtigt gewesen sein.

Was würden die beiden wohl heute verhüllen? Was bräuchte aktuell einen schärferen Blick? Ich hätte da eine Idee: Ich glaube, wir täten gut daran, einmal den Menschen zu verhüllen!

Wenn Berufsgläubige vorschlagen, Menschen zu verhüllen, dann kommen einem unweigerlich die religiöse Ideologien in den Sinn, die Menschen tatsächlich dazu bringen, sich zu verhüllen. Allerdings nicht aus künsterlischen Gründen, damit diese Menschen genauer angeschaut werden. Im Gegenteil. Aber diese Assoziation spielt für Herrn Alter freilich keine Rolle.

Christo hielt religiösen Glauben für eine „gefährliche Illusion“

Genausowenig scheint es ihn zu stören, dass sich Christo bekanntermaßen ausdrücklich gar nicht und wenn doch, dann kritisch zu Religion geäußert hatte:

und

  • Künstler Christo hält den religiösen Glauben für eine „gefährliche Illusion“, sagte der in New York lebende 75-Jährige in „Die Welt“. Christo berichtete, dass seine im vergangenen Jahr verstorbene Frau Jeanne-Claude nicht beerdigt worden sei. Sie habe ihren Körper einer New Yorker Universität zu Forschungszwecken überlassen. (EPD)
    (Quelle: bz-berlin.de)

Was eine religiöse oder sonstige Deutung ihrer Werke anging, hatte sich das Künstlerehepaar nie festlegen lassen. Sondern darauf verwiesen, dass ihre Installationen für jede beliebige Interpretation offen seien.

Schon zu Lebzeiten Christos hatten Kirchenvertreter immer gerne von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Denn auch wenn im Christentum gemeinhin keine Frauen (von Nonnen abgesehen) verhüllt werden, so hat die Ver- und Enthüllung von Kreuzen, Bildern und Statuen eine lange Tradition im christlichen Zeremonienrepertoire. Und da bekommt dann schnell auch mal ein verhüllter Reichstag eine religiöse Verpackung verpasst.

Abgesehen davon kennt sich gerade die katholische Kirche auch in einem anderen Zusammenhang mit Verschleierung bestens aus: Wenn es um das institutionalisierte, systematische Verstecken von sexuellen Gewaltverbrechen von Priestern gegen Kinder geht.

Don’t judge a book by its cover

Worauf Herr Alter hinaus will, das beschreibt er so:

Damit wir unser Urteil über ihn nicht allzu sehr an Äußerlichkeiten festmachen. An seiner Hautfarbe, seiner Herkunft oder seinem Beruf. Würden wir den Menschen verhüllen, könnten wir nicht mehr sehen, ob er eine helle oder dunkle Hautfarbe hat. Ob er wie ein Drogendealer aussieht oder wie ein Polizist. Wir könnten nur noch hören, was er sagt, und sehen, was er tut.

Herr Alter, wenn Sie das Aussehen eines Menschen dazu verleitet, Menschen aufgrund von Äußerlichkeiten in Schubladen zu stecken, dann nutzen Sie doch einfach (anonyme) soziale Netzwerke. Dort können Sie sich auf das konzentrieren, was Menschen zu sagen (bzw. zu schreiben) haben.

Ansonsten wäre es doch eine bessere Empfehlung, Menschen dazu anzuregen, ihre Mitmenschen nicht nach Äußerlichkeiten zu bewerten. Statt vorzuschlagen, sie mal zu verhüllen.

Das Problem liegt beim Betrachter

Der verhüllte Mensch. So paradox es klingt: Wir würden ihn besser sehen. Nicht getrübt durch die Linse unserer Mutmaßungen und Vorurteile, sondern etwas mehr, wie er wirklich ist.

Zum „wirklich Sein“ gehört auch das äußere Erscheinungsbild. Herr Alter, das Aussehen von Menschen darf doch nicht das Problem sein! Wenn, dann ist die Voreingenommenheit des Betrachters das Problem.

Und wieder drängt sich die Parallele zu den männlichen Religionsfanatikern auf, die die Verschleierung von Frauen damit begründen, dass diese sonst Männer (denen ihre Religionsideologie das Ausleben ihrer Sexualität praktisch komplett untersagt) sexuell erregen könnten.

Statt zum Beispiel sich selbst die Augen zu verbinden. Oder statt mal ihre Weltanschauung aufs aktuelle Jahrtausend upzudaten.

Auf falscher Fährte

[…] Mir ist es schon häufiger passiert, dass der erste Eindruck eines Menschen mich getäuscht hat. Manchmal kann er hilfreich sein. Viel häufiger aber erlebe ich, dass er mich auf eine falsche Fährte führt. Denn der Mensch ist immer mehr als die Summe seiner Äußerlichkeiten. Er hat eine Geschichte, er hat ein Herz und er hat in aller Regel auch einen guten Willen.

Und deswegen solle man Menschen also mal verpacken? Um ihnen unvoreingenommen begegnen zu können? Ihr Ernst, Herr Alter?

Das wieder neu sehen zu lernen – dazu hat schon der Apostel Paulus aufgerufen: „Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet?“ ruft er einer Gemeinde zu, die sich in einem Streit über Äußerlichkeiten verheddert hat. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; ihr alle seid einer in Christus Jesus.“

Hier geht es nicht um Gleichberechtigung von Menschen untereinander. Sondern darum, dass die gerade entstandene jüdische Endzeitsekte bei der Wahl ihrer Mitglieder keine Unterschiede machte – solange Beitrittswillige das einzige Kriterium erfüllten: Das Bekenntnis zum „richtigen“ Gott.

Aus Marketing-Sicht ein geschickter Schachzug: Das Angebot so gestalten, dass es für eine möglichst große Zielgruppe attraktiv erscheint.

Wir müssen eben nicht alle einer sein in Christus Jesus

Ausgerechnet das religiöse Bekenntnis kann und darf heute aber natürlich genausowenig mehr ein Kriterium sein, um Menschen ein- oder auszuschließen wie zum Beispiel ihr Aussehen oder ihre Herkunft.

Als Maßstab dienen heute keine Göttermythen mehr. Sondern humanistische ethische Standards.

Die Menschen müssen dazu eben gerade nicht alle einer sein in Christus Jesus. Das Menschsein genügt. Tagtäglich lässt sich weltweit beobachten, wie religiöser Glaube Menschen spaltet. Während Herr Alter testweise mal alle Menschen durch Verhüllung „gleich“ machen möchte, bringen in Polen Katholiken, denen man nicht vorwerfen kann, dass sie ihre christlich-katholische Lehre nicht ernst nehmen würden ihren abgrundtiefen Hass auf die Gleichheit zum Ausdruck.

Einmal mehr ist ausgerechnet der religiöse Aspekt zu dem, was Herr Alter vermutlich eigentlich sagen möchte, nicht nur entbehrlich, sondern kontraproduktiv.

Friede, Freude, Eierkuchen? Du willst es doch auch!

Zur missglückten Analogie zwischen Christos Verhüllungsaktionen und der Idee, Menschen zu verhüllen, kommt jetzt noch eine Verallgemeinerung dazu:

Man muss das christliche Bekenntnis dieses Mahnrufs nicht teilen, um zu erkennen, dass wir Menschen doch etwas gemeinsam haben, das tiefer liegt als alle äußerlichen Unterschiede. Wir alle sehnen uns nach Liebe. Wir wollen Friede und Gerechtigkeit. Wir streben nach einer besseren Welt. Die Art und Weise, wie wir das tun, kann sich mitunter sehr unterscheiden. Aber im Grunde sind wir doch auf einem ganz ähnlichen Weg unterwegs.

Das halte ich für eine reichlich naive und unrealistische Romantisierung der irdischen Wirklichkeit.

Nein, Herr Alter. „Wir“ sind nicht alle „auf einem ganz ähnlichen Weg unterwegs.“ Nicht mal „im Grunde.“

Wolf und Lamm weiden nicht zusammen, und der Löwe frisst kein Stroh wie das Rind, um es mit Jesaja 65,25 biblisch auszudrücken.

Natürlich wäre es schön, wenn alle Menschen gemeinsam nach einer besseren Welt streben würden. Es wäre schön, wenn alle Menschen gemeinsam danach streben würden, dass die Erde auch zukünftigen Generationen als  lebenswerter, gesunder und fairer Lebensraum zur Verfügung steht. Und nicht nur der eigenen Nation, der eigenen Ethnie, dem eigenen Wirtschaftsraum. Sondern global.

Andere Wege zu ganz anderen Zielen

Pauschalisierungen wie „wir alle…“ beinhalten auch immer die, weder Friede noch Gerechtigkeit wollen. Jene, die ganz andere Vorstellungen von einer „besseren Welt“ haben. Und die auf ganz entgegengesetzt anderen Wegen unterwegs sind, um ihre ganz anderen Vorstellungen von dem umzusetzen, was sie für eine „bessere Welt“ halten.

Das, was die Menschheit tatsächlich eint, ist ihr Potential, das Zusammenleben hier im Diesseits fairer und gerechter zu gestalten.  Das Potential, gemeinsam dazu beizutragen, die Erde als Biosphäre für Sauerstoff verstoffwechselnde Lebewesen zu erhalten, sie friedlicher und gerechter zu machen.

Dabei spielt die Globalisierung eine wichtige Rolle: Einerseits als große Herausforderung, andererseits als große Chance. Weil viele der Probleme, vor denen die Weltbevölkerung steht, meines Erachtens nur global gelöst werden können.

Was es wirklich braucht

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine rationale Weltsicht anstelle magisch-esoterischer Vorstellungen, wie sie auch das Christentum propagiert.

Im Mittelpunkt steht kein beliebig definierbarer Gott mehr, mit ebenfalls beliebig definierbaren Absichten. Sondern das Wohl des Menschen und seiner Mitlebewesen. Es gilt, moderne ethische Standards zu verhandeln und zu etablieren, die für alle Menschen gelten können. Unabhängig davon, ob bzw. welche Götter sie verehren.

Religion kann weder zur Zielsetzung, noch zur Erreichung dieser Zielsetzung sinnvoll beitragen. Das scheint ja auch Herr Alter so zu sehen, wenn er anmerkt, dass man „das christliche Bekenntnis dieses Mahnrufes nicht teilen“ müsse.

Ich frage mich, was dann überhaupt noch übrig bleibt vom religiösen Beitrag? Außer einer Ideologie auf magisch-esoterischer Grundlage? Ein absurdes, unmenschliches und unmoralisches Belohnungs-Bestrafungskonzept, das jederzeit auch hervorragend für Zwecke instrumentalisiert werden kann, die der hier angedeuteten Vorstellung einer „besseren Welt“ diametral entgegenstehen?

Das wieder mehr in den Vordergrund unserer Wahrnehmung zu rücken, das hielte ich für ein lohnendes Experiment. Durch Verhüllung? Ja, warum eigentlich nicht?

Weil das Problem nicht das äußere Erscheinungsbild eines Menschen ist. Sondern die eigene Wahrnehmung.

Den Blick schärfen – hinter die eigene Kirchentür

Herr Alter, als katholischer Priester könnten und sollten Sie zudem auch mal überlegen, inwieweit die von Ihnen vertretene Kirche zur Bildung und Etablierung von Vorurteilen beigetragen hat und bis heute beiträgt.

Exemplarisch möchte ich an dieser Stelle einmal mehr auf eine Darstellung in einer nordbayerischen Kirche aufmerksam machen, die das zuständige Bistum Würzburg bis heute offenbar für geeignet hält, um die Überlegenheit des weißen Erzengels Michael über das Böse zu demonstrieren, verkörpert durch einen dunkelhäutigen und physiognomisch unzweifelhaft so gestalteten Menschen, wie man früher Afrikaner darstellte.

Wenigstens in diesem Fall dürfte es für die katholische Kirche von Vorteil sein, dass sich kaum noch jemand für sie interessiert. Und so ist damit zu rechnen, dass auch in Zeiten von #blm niemand an dieser Statue Anstoß nimmt. Die paar verbliebenen Kirchenbesucher zu Reichenbach scheint es jedenfalls nicht zu stören beim allsonntäglichen Kirchenbesuch, bei dem sich jedes Mal aufs Neue dieses Bild einprägt:

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1 Gedanke zu „Der verhüllte Mensch – Das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Ja, was blendet/verhülltt denn nur mehr?
    Der Splitter im eigenen Auge, oder der Balken im Auge des Bruders?!
    Oder darfs vielleicht ein „neckisches Pinguin-Kostüm“ sein, um seine „objektive“ Heiligkeit zu begründen…

    Besser: Man hülle sich in Schweigen!!!

    Antworten

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