Mein behindertes Kind – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Annette Behnken, veröffentlicht am 09.09.2023 von ARD/daserste.de
Darum geht es
Frau Behnken sorgt sich wegen Entwicklungen, die eine Inklusion gefährden könnten, ohne Gefahren konkret zu benennen. Gelebte Nächstenliebe und Solidarität hält sie für unverbrüchliche Folgen ihres Glaubens.Frau Behnken berichtet heute von den kostbaren und von den bitteren Erfahrungen, die sie als Mutter eines behinderten Kindes gemacht hatte. Ihr Fazit daraus:
[…] Und der Anspruch ist: Alle Menschen, uneingeschränkt, müssen an allen Bereichen des Lebens teilhaben können. Punkt, aus. Klare Sache. Inklusion ist ein Menschenrecht.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Mein behindertes Kind – Wort zum Sonntag, verkündigt von Annette Behnken, veröffentlicht am 09.09.2023 von ARD/daserste.de)
Hier wird wohl kaum jemand Frau Behnken widersprechen wollen.
Unverbrüchliche Folge aus meinem Glauben
Doch dann wird es fragwürdig:
Für mich ist das unverbrüchliche Folge aus meinem Glauben: Gelebte Nächstenliebe und Solidarität. Gut, nun kann Ihnen mein Glaube egal sein. Aber wahrscheinlich ist Ihnen nicht egal, was das Herz unseres Zusammenlebens ausmacht, nämlich die uneingeschränkte Würde jedes Menschenlebens.
Vorab: Meines Erachtents bedeutet unverbrüchlich hier nichts anderes als: Diese meine Einstellung (mein Glaube ist die Grundlage für gelebte Nächstenliebe und Solidarität) habe ich gegen jede Kritik und Infragestellung immunisiert. Egal was kommt, ich halte daran unbeirrbar fest. Bei Rückfragen halte ich mir wie ein Kindergartenkind die Ohren zu und singe laut lalala.
Frau Behnkens Privatglaube, also das, was sie sich aus dem biblisch-christlichen Glaubenskonstrukt für ihre privaten Zwecke herausgepickt und so zurechtgebogen hat, dass es wenigstens so erscheint, als stünde es nicht gar zu krass im Widerspruch zu modernen ethischen Standards und Werten, ist selbstverständlich ihre Privatangelegenheit.
Allerdings steht sie beim „Wort zum Sonntag“ ja im Namen und Auftrag ihrer Kirche vor der Kamera.
Und da wäre es doch naheliegend, mal zu erklären, wo Frau Behnken in Sachen „uneingeschränkte Würde jedes Menschenlebens“ im biblisch-christlichen Glaubenskonstrukt fündig geworden sein will:
Uneingeschränkte Würde jedes Menschenlebens?
Wo in der Bibel ist von einer uneingeschränkten Würde jedes Menschenlebens die Rede? Also von einer Würde, die auf nichts weiter als auf Menschein beruht?
Und nicht etwa auf dem Bekenntnis zum Gott der biblisch-christlichen Mythologie und auf einer angeblichen Ebenbildlichkeit mit diesem Gott? Also mit dem Gott, der laut biblischer Mythologie als erste Amtshandlung jedes Menschenleben (und das von Schlangen) verflucht und mit Leid und Sterblichkeit bestrafte? Und das auch noch, bevor er seinen menschlichen Prototypen das Konzept „Moral“ überhaupt vermittelt hatte?
Wenn man das wüsste, könnte man im nächsten Schritt mal versuchen herauszufinden, warum es dann um die uneingeschränkte Würde jedes Menschenlebens so katatstrophal schlecht bestellt war in den Jahrhunderten, in denen das Christentum alle Macht der Welt gehabt hätte, um mit gelebter Nächstenliebe und Solidarität positiv in Erscheinung zu treten.
Die allermeiste Zeit, genauer: Bis zu ihrer teilweisen Entmachtung durch Aufklärung und Säkularisierung hatte der christliche Glaube für seine Anhänger (und Verbreiter) ganz andere, aber sicher mindestens genauso unverbrüchliche Folgen als für Frau Behnken heute.
Herr, ich bin nicht würdig…
Und wenn man heute noch als Wertegrundlage eine „Heilige Schrift“ verwenden muss, dann wird man diesen Ballast nicht los, ohne dass das gesamte Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Das Ergebnis sind die wöchentlichen theologisch-rhetorischen Eiertänze der Wort-zum-Sonntag-Sprecher.
Christen sprechen in jedem Gottesdienst laut (und zumeist in sehr betroffenem und bedröppelten Ton) im Chor:
„Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Menschenwürde: Menschenrecht
Nachdem Frau Behnken nun also schon mal klar gestellt hat, dass sie – natürlich als unverbrüchliche Folge ihres Glaubens – zu den Guten gehört, benennt sie die Nazidiktatur als Bedrohung der individuellen Menschenwürde:
Die wurde nach der menschengemachten Katastrophe des dritten Reiches mit verdammt gutem Grund in unserer Verfassung verankert. Die Grundlage jedes Menschenrechts.
Genau richtig. Die Katastrophe der „Euthanasie“ aufgrund politischer Ideologie war genauso menschengemacht wie jene aufgrund anderer, zum Beispiel religiöser Ideologien.
Denn auch in der Bibel finden sich problemlos Stellen, mit denen der Ausschluss oder auch gleich die Vernichtung von Menschen mit Behinderung (oder auch mit anderen Differenzierungsmerkmalen) als gottgewollt legitimiert werden können.
Dass wir es hier keinesfalls mit einem längst überwundenen Phänomen aus dem Mittelalter zu tun haben, zeigt beispielsweise die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung so genannter „Hexenkinder“ im Kongo und in weiteren afrikanischen Ländern, vornehmlich durch evangelikal-fundamentalistische Verbrecher. Auch das ist wieder so eine unverbrüchliche Folge – aus deren (genauso christlichen) Glauben.
Alle Menschen, uneingeschränkt, müssen an allen Bereichen des Lebens teilhaben können. Klare Sache. Schwierige Sache.
Inklusion ist anspruchsvoll und kann nerven: Rücksicht nehmen. Zugänge erleichtern. Lernstoffe umstellen. Anderssein aushalten. Aber: Das ist Voraussetzung für viele Menschen, um am Leben teilnehmen zu können.
Auch hier wird wohl kaum jemand widersprechen wollen. Und wie sieht’s mit der Inklusion von Behinderten in der Bibel aus?
Kranke und Behinderte treten in der Bibel in erster Linie als Statisten für göttliche Machtdemonstrationen in Erscheinung (etwa bei Markus 5,34 oder Lukas 17,19).
Laut des biblischen Jesus sind Behinderungen gar genau zu diesem Zweck existent, siehe Johannes 9,1-3.
Klare Sache.
Herausforderung Inklusion
Viele? Wieviel Prozent unserer Gesellschaft betrifft das überhaupt? 100 Prozent. Alle. Inklusion betrifft alle die, sei es wegen ihres Alters, ihrer Behinderung, ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Geschlechtsidentität an Teilen des gesellschaftlichen Lebens nicht teilnehmen können. Und alle, die mit ihnen solidarisch sind. Inklusion geht nur zu 100 Prozent.
Voraussetzung für das Gelingen ist eine solide und verlässliche, von allen Menschen einforderbare Werte- und Rechtsgrundlage. Und nur, wenn die Bevölkerung diese Werte kennt und sich deren Wert bewusst ist, kann man auch von ihr erwarten, dass sie sich für diese Werte einsetzt und sie auch verteidigt, wenn jemand versucht, die freiheitlichen Werte für nicht-freiheitliche, antidemokratische oder inhumane Zwecke zu missbrauchen.
Denn: Freie Gesellschaften wachsen nicht auf Bäumen!
Ethik- und Werteunterricht statt Religionsunterricht!
Die Allgemeinen Menschenrechte können als derzeit höchster Wert in der Entwicklung hin zu einer freien und offenen Gesellschaft angesehen werden.
Das Wissen um und das Bewusstsein für die Werte, auf denen unsere modernen ethischen Standards und auch unsere Gesetzgebung beruhen, muss deshalb besser gestern als heute zum verpflichtenden Schulfach für alle Kinder und Jugendliche werden.
Weil unsere heutige Gesellschaft schon lange nicht mehr auf archaischen magisch-mythologischen Göttersagen, sondern auf säkularen, humanistischen und naturalistischen Werten beruht, kann und sollte der konfessionelle Religionsunterricht durch einen Ethikunterricht ersetzt werden, in dem die Werte vermittelt werden, die für alle Menschen, die in einer offenen und freien Gesellschaft leben verbindlich sind und dementsprechend von allen Menschen eingefordert werden können müssen.
Auch hier stehen Religion und Glaube also einmal mehr (zum Glück gar nicht so unverbrüchlich wie bei Frau Behnken, wenngleich immernoch massiv behindernd) im Weg, als dass sie einen brauchbaren, wertvollen oder gar unverzichtbaren Beitrag leisten könnten.
Für moderne ethische Standards und Gesetze, die als Grundlagen für Konzepte wie Inklusion gegeben sein müssen, spielt es keine Rolle, ob und wenn ja an welche Götter jemand glaubt.
Diesen Anspruch erhebt Frau Behnken freilich auch gar nicht. Aber sie vertritt eine religiöse Ideologie, deren Unterscheidungskriterium der Glaube an den „richtigen“ Gott ist.
Dass ihr Glaube in diesem Zusammenhang zwar für sie persönlich, nicht aber für ihr Publikum eine Rolle spielen würde interpretiere ich als Eingeständnis, dass das christliche Glaubenskonzept zwar auch so zurechtgebogen und so vage dargestellt werden kann, dass es zumindest dem Anschein nach nicht im krassen Widerspruch zu modernen Werten und Gesetzen steht. Ohne freilich dadurch etwas von seinem Schadens- und Gefahrenspotential zu verlieren.
Wie man es dann schafft, trotzdem daran festzuhalten, kann ich mir nur mit Frau Behnkens Berufswahl erklären.
Heulen und Zähneklappern im ewigen Feuerofen
Aber zunehmend höre und lese ich Kommentare und Statements von Menschen, die nicht inklusiv denken, sondern exklusiv. Die andere ausschließen, sortieren in dazugehörig – nicht dazugehörig. Das ist Selektion. Das ist menschenverachtend. Das hatten wir schonmal.
Genau. Das hatten wir schonmal. Nicht nur während der Nazidiktatur.
Sondern auch in praktisch jedem Gleichnis, das die anonymen Bibelschreiber ihrem Jesus in den Mund gelegt hatten.
Das unmenschliche, ungerechte und amoralische Belohungs-Bestrafungskonzept ist der „Rote Faden“ der Bibel. Auf den Punkt gebracht bei Markus 16,16.
Ingroup – Outgroup
Dieses biblisch-christliche Glaubenskonzept war exakt für diesen Zweck konzipiert worden:
Menschen, in diesem Fall abhängig von ihrem Glaubensbekenntnis, in dazugehörig – nicht dazugehörig zu sortieren. Wir, die Guten, die Erwählten, die Erlösten, die ingroup auf der einen Seite.
Und ihr, die Bösen, die Falsch- oder Ungläubigen, die Verdammten, die outgroup auf der anderen Seite.
Projiziert auf Gott lautet die Message dann: Unterwirf dich mir vollständig, dann bewahre ich dich vielleicht vor dem, was ich dir antue, wenn du es nicht tust.
Nächstenliebe heißt nicht umsonst Nächstenliebe. Und auch die biblischen Aufrufe zu Solidarität beziehen sich stets auf die Mitglieder der Glaubensgeinschaft.
Der „Erfolg“ dieses einfachen Konzeptes füllt die rund 10.000 Buchseiten der Kriminalgeschichte des Christentums, die jüngere Vergangenheit nicht mitgerechnet.
Solidarität und Nächstenliebe
Und ich habe Angst, wie lange nicht, dass wir an dieser Stelle nicht mehr wachsam sind. Lassen Sie uns alle aufpassen. Den Mund aufmachen. Uns einsetzen. Vorbilder sein, so gut es geht, für das, was uns Menschen menschlich macht: Solidarität und Nächstenliebe.
Es ist vermutlich kein Zufall, dass Frau Behnken hier so vage und unbestimmt bleibt. Denn worauf genau sie hier anspielt, lässt sich nicht sagen.
Und so kann man nur spekulieren, ob es sich hier um eine nicht konkret ausgesprochene Kritik zum Beispiel an Präimplantationsdiagnostik (PID) oder an Abtreibung handeln könnte.
Die Bezugnahme auf das Thema Euthanasie erinnert an die Parolen gewisser christlicher Kreise, die menschliches Leid für eine unvermeidliche und gerechte göttliche Strafe und/oder Prüfung, einen Zellhaufen für ein Ebenbild ihres Gottes und die Einäscherung eines verstorbenen Menschen für die sündhafte und deshalb unzulässige Zerstörung göttlicher Schöpfung halten.
Vielleicht meint sie aber auch nur einen allgemeinen Mangel an Solidarität und Nächstenliebe.
Wäre Frau Behnkens Glaube weniger unverbrüchlich, dann könnte man mit ihr vielleicht mal über die (Un-)Tauglichkeit des Konzeptes der christlichen Nächstenliebe diskutieren.
Und darüber, ob nicht vielleicht das Konzept der Fairness besser geeignet sein könnte, um das Miteinander mitmenschlicher zu gestalten.
Statt weiter darüber Mutmaßungen anzustellen, wen oder was Frau Behnken denn jetzt nun tatsächlich gemeint haben könnte, verabschiede ich mich mit einem Schulterzucken, der Hoffnung, trotzdem ein paar Anregungen zum Nachdenken geliefert zu haben und vielen Urlaubsgrüßen an die geschätzte Leserschaft!
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