Tief durchatmen – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 6 Min.

Tief durchatmen – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 29. Mai 2021 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Durchatmen mit Frau Behnken: Nachdem sie ihre komplette Wortwolke zum Thema „Atmung“ abgearbeitet hat, dürfen natürlich pauschale Menschheitskritik und die Vereinnahmung für Glaubensreklame nicht fehlen.

Wenn man, um Bild zu bleiben, aus dem heutigen „Wort zum Sonntag“ die Luft rauslässt, bleibt von der Verkündigung nicht allzu viel übrig.

Frau Behnken demonstriert zum Einstieg die banale Erkenntnis, dass Atmen lebensnotwendig ist. Das freie Durchatmen sieht sie durch Abstand (?) und Maskenpflicht eingeschränkt und freut sich, endlich wieder mal durchatmen zu können.

Stardust in the wind

Vom biologischen Vorgang des Atmens schweift sie anschließend erst schonmal kurz auf die metaphorisch-esoterische Ebene ab:

[…] Atmen. Ist unsere fundamentalste Form, mit dem Leben in Beziehung zu sein. Mit Freunden und Feinden. Mit Bäumen und Rosen. Zecken. Gänseblümchen. Schweinen. Katzen. On air – mit dem Leben. Dem ganzen Universum – ist bestimmt auch das ein oder andere Sternestaubkorn in unserer Atemluft.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Tief durchatmen – Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 29. Mai 2021 von ARD/daserste.de)

Sauerstoff war durch die Ausscheidungen von Organismen entstanden, die Methan verstoffwechselten. Die Luft, die wir atmen, sind quasi die Pupse urzeitlicher Algen. Das hätten die sich, genauso wie die Dinosaurier, sicher auch mal anders vorgestellt. Wenn sie denn in der Lage gewesen wären, sich etwas vorzustellen.

Diesen Organismen haben wir es zu verdanken, dass Sauerstoff verstoffwechselnde Lebewesen evolvieren konnten. Dass wir heute existieren, an ihrer statt (bis auf wenige Ausnahmen).

Und was die Verbindung zum Universum angeht: Alle Materie ist nichts anderes als Sternenstaub. Stardust in the wind, sozusagen. Atemluft hingegen ist im ganzen Universum nur in verschwindend geringer Menge anzutreffen.

Beatmet – beschenkt?

Der erste Atemzug eines Lebens. Der letzte. Unzählige dazwischen. Und keiner davon liegt in unserer Macht. Man kann es nur geschehen lassen.

Das stimmt nur bedingt. Denn die Atmung ist die einzige „automatische“ Körperfunktion, die wir zumindest zeitweise willentlich beeinflussen können.

Und mit jedem Atemzug gewahr werden, dass wir Beatmete sind. Beatmet, angeatmet – beschenkt mit Leben.

Bei verschwurbelten Formulierungen wie dieser aus dem Mund einer Theologin kann man sich schon denken, wo die Reise thematisch hingehen wird. Es wird sicher gleich darum gehen, die Atmung als göttliches Geschenk umzudefinieren.

Dabei ist natürlich auch das für die Atmung zuständige autonome Nervensystem Teil des menschlichen Organismus.

Dieser, und kein magisches Himmelswesen sorgt aus reinem Eigennutz dafür, dass Menschen nicht versehentlich (oder absichtlich) vergessen zu atmen. Organismen ohne autonome Steuerungszentralen für bestimmte lebensnotwendige Vitalfunktionen waren, soweit mir bekannt ist, in der Evolution nie sehr weit gekommen…

Gewagte These

Aber bevor Frau Behnken ihre religiöse Interpretation vom Durchatmen präsentiert, gibts erst noch ein bisschen Politik- und Gesellschaftskritik:

Aber es ist was dazwischen. Stoff, Gaze. Seit einem Jahr. Dass das notwendig ist, steht außer Frage, aber zugleich ist es wie ein Symptom. Symptomatisch für unsere Beziehung zur Welt und zum Leben um uns. Wo was ganz anderes dazwischen ist, als Stoff und Gaze, nämlich: Entfremdung. Unsere Beziehung zur Welt ist entfremdet. Fundamental. Entfremdet, weil beherrscht durch die unheilvollen Leitmotive von Ökonomie, Macht und Machbarkeit. Und genau dadurch, wie wir umgehen mit Lebensräumen und Lebewesen, haben wir die Bedingungen dafür geschaffen, dass das Virus sich ausbreiten kann.

Zoonosen
Von Bartz/Stockmar – Fleischatlas 2021, CC-BY 4.0

Das halte ich für eine gewagte These, der ich ohne nähere Erklärung so nicht zustimmen kann. Als Ursache der Corona-Pandemie geht man von einer Zoonose aus, also der Übertragung einer tierischen Infektionskrankheit auf den Menschen. Und hier ist Corona längst nicht der erste oder einzige Fall.

Auch halte ich es für fragwürdig, den wirksamen und nützlichen Effekt einer Atemschutzmaske mit dem negativen Aspekt der Entfremdung im Sinne einer gestörten Beziehung zur Welt in Verbindung zu bringen.

Was die Verbreitung (neben Gottesdiensten und anderen Massenveranstaltungen) sicher begünstigt und beschleunigt, sind Interkontinentalreisen.

Inwieweit Ökonomie, Macht und Machbarkeit primär damit zu tun haben, erschließt sich mir nicht. Keine Frage: In diesen Bereichen gibt es sicher viel zu kritisieren, gerade auch im Umgang mit Lebensräumen und Lebewesen. Allerdings scheint mir diese Kritik im Bezug auf die Ausbreitung des Coronavirus nicht angemessen.

Zumal diese Darstellung auch wieder gewohnt einseitig ist: Ohne Ökonomie, Macht und Machbarkeit wäre es kaum gelungen, in so kurzer Zeit tatsächlich wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu erforschen und zu entwickeln.

So besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Menschheit Corona besser übersteht als das zum Beispiel bei der Spanischen Grippe oder der Pest der Fall war, wo erst eine ausreichend große Anzahl an Überträgern sterben musste, bevor es zu einem natürlichen Rückgang der Infektionszahlen kam. Weil man sich damals noch auf Gebete verlassen hatte, statt nach tatsächlichen Gegenmaßnahmen zu forschen.

Religionstypische Pauschalisierung

Das Virus macht die Entfremdung überdeutlich sichtbar. Und es sensibilisiert. Dafür, dass uns in der Entfremdung etwas radikal flöten geht: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Atemlos durch die Welt.

Ist das so? Kann man der gesamten Weltbevölkerung pauschal eine Entfremdung unterstellen? Einen generellen Verlust der Ehrfurcht vor dem Leben? Oder bezieht sich Frau Behnken hier nur auf ihre Glaubensbrüder und -schwestern, die ja vermutlich die Zielgruppe dieser kirchlichen Dauerwerbesendung sind?

Jedenfalls wirft sie auch alle Menschen und Organsiationen, die sich aktiv darum bemühen, die Erde als geeigneten Lebensraum für Sauerstoff verstoffwechselnde Lebewesen zu erhalten in einen Topf mit skrupellosen Profiteuren, die einzig danach streben, ihren persönlichen Gewinn auf Kosten der Allgemeinheit zu maximieren.

Pauschale Schuldzuweisungen werden auch hier der Situation nicht gerecht. So schwarz-weiß ist die Welt nicht. Gut-Böse-Dualismen sind typischerweise in monotheistischen Religionen anzutreffen. Für einen vernünftigen Umgang mit der Komplexität der heutigen globalen Situation sind sie unbrauchbar.

Das Motiv für diese Pauschalisierung ist leicht zu durchschauen: Es gilt für Berufschristen wie Frau Behnken, ein Gefühl von menschlicher Abhängigkeit ihrem Gott gegenüber zu erzeugen.

Auch das ist letztlich wieder Eigennutz: Denn eine solche, wenn auch nur gefühlte bzw. eingebildete Abhängigkeit ist ihre Geschäftsgrundlage.

Dabei lautet die einzige Hoffnung Mensch. Und nicht Gott/Göttin/Götter.

Einmal tief durchatmen – und losschwurbeln

Und dann zündet Frau Behnken noch schnell ein wahres Feuerwerk an religiös-esoterischem Geschwurbel, das eher auf Hyperventilation oder die Inhalation psychoaktiver Substanzen denn auf „einmal tief durchatmen“ schließen lässt:

Statt atmend mit der Welt. Atmend sind wir elementar mit der Welt, dem Leben in Beziehung, in Austausch. Ein- und ausatmend. Atmend nehmen wir die Welt wahr und antworten auf sie. In jedem Atemzug ist spürbar, dass ich mein Leben verdanke, jemandem …, etwas …, dass ich verwoben bin mit allem, was lebt – wir atmen alle dieselbe Luft. Sind vom selben Geist beatmet. Lebensodem. Eingehaucht von dem, den wir Gott nennen. Für mich ist jeder Atemzug ein Gebet. Jeder Stoßseufzer ein Stoßgebet. Und so viele Atemzüge ich in diesem Leben habe, so viele Stoßgebete schick ich los: dass wir vom Atem lernen: Einen anderen Modus, in der Welt zu sein. Atmend. Ehrfürchtig. Nicht nur, aber auch: Für Freiheit im Gesicht. Irgendwann. Und Sonne in der Seele. Jetzt.

Wie oben schon kurz angedeutet, lässt sich die Entstehung und Funktionsweise der Atmung schlüssig wissenschaftlich erklären. Ohne, dass dafür die Annahme von magisch-esoterischen Einflüssen wie göttlicher Geister-Fremdbeatmung erforderlich wäre.

Es geht nicht um Ehrfurcht vor dem Leben als Geschenk eines Gottes mit tripolarer Persönlichkeitsstörung. Der sich, wenn es ihn gäbe, exakt so verhält, als gäbe es ihn nicht. Und der jedes einzelne an ihn gerichtete Gebet genauso kommentar- und tatenlos ignoriert wie jegliches Leid empfindungsfähiger Lebewesen. Dieser Gott ist alt genug und zudem allmächtig. Der möge sich um seine Anliegen selbst kümmern.

Eigennutz statt Gottesfurcht

Tief durchatmen!Vielmehr ist die Erhaltung der irdischen Biosphäre eine höchst eigennützige Angelegenheit: Menschen profitieren auch selbst davon, wenn sie nicht nur für ihr persönliches, sondern auch für das Allgemeinwohl handeln. Die Grundlage für dieses Handeln bilden ethische Standards. Und das wiederum ist ebenfalls eine rein menschliche Angelegenheit.

Statt also unnützem niemals erhörte Gebete an imaginäre Himmelswesen zu hauchen, könnte Frau Behnken sicher Sinnvolleres zur Bewältigung der Herausforderungen beitragen, vor denen die Menschheit steht.

Einmal mehr sei an dieser Stelle zum Beispiel auf Frank Schätzings Buch „Was, wenn wir die Welt retten?“ verwiesen. Der Autor fasst darin zusammen, wo wir gerade stehen, was uns erwartet und was jede/r einzelne tun kann, um einen Beitrag zu leisten.

Gebete, Götter, Geister und Gottessöhne spielen dabei keine Rolle. Sondern Menschen, nicht-fossile Energiequellen, ethische Standards und KI.

Damit wir, frei nach Blend-A-Med®, auch morgen noch kraftvoll durchatmen können. Ob das tatsächlich noch gelingen kann, ist freilich schon längst mehr als fraglich.

Nachbemerkung

Der Anteil an praktizierenden Gläubigen ist inzwischen zumindest hierzulande so gering, dass sich die Frage stellt, warum für diese Gruppe auch 2021 noch eine Extra-Kirchenwerbesendung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgestrahlt werden muss.

Ist es nicht längst überfällig, diese Sendung durch ein Format zu ersetzen, das auf Wissenschaft, Philosophie, Humanismus und Ethik basiert?  Statt allsamstagabendlich religiöse Vereinnahmungen von an sich relevanten Themen zu präsentieren? Religiöse Interpretationen, die den Glauben an eine absurde Wüstenmythologie voraussetzen? Oder brauchen Christen nach wie vor eine solche Extra-Einladung, die ihre religiös erweiterte Scheinwirklichkeit berücksichtigt?

Es sind ausgerechnet immer die religiösen Aspekte dieser Sendung, die genau nichts zur Lösung beitragen. Davon, dass sich Menschen einbilden, unter bestimmten Umständen und bei ausreichender Unterwürfigkeit von fiktiver göttlicher Gnade profitieren zu können, wird die Welt nicht besser.

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