Erinnerung an die Befreiung – das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 5 Min.

Erinnerung an die Befreiung – das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Lissy Eichert, veröffentlicht am 25.1.2020 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Religiöser Glaube kann Menschen dazu bringen, sich mitmenschlich zu verhalten – aber eben auch unglaublich unmenschlich. Frau Eichert lobt die persönliche Freiheit, obwohl sie eine Institution vertritt, die meint, diese Freiheit einschränken zu dürfen. Die Pastoralreferentin wünscht sich und ihrem Publikum, auch im schlimmsten Leid einen tieferen bzw. höheren Sinn zu erkennen.

In ihrer heutigen Fernsehpredigt erinnert Frau Eichert an eine Frau, die nach einem wechselhaften Leben erst im Exil und schließlich im Konzentrationslager ein sinnvolles und erfülltes Leben erlangte, indem sie Mitmenschen unterstützte.

Das Beispiel der orthodoxen Nonne Lisa Pilénko alias „Mère Marie“ zeigt, dass religiöser Glaube Motivation für praktisch jedes beliebige Verhalten sein kann.

Der selbe in der Bibel beschriebene Gott wird von Gläubigen ganz offensichtlich immer als der richtige Adressat angesehen. Und zwar ganz egal, ob sie gedenken, in seinem Namen ihren Mitmenschen zu helfen oder sie zu ermorden.

Und wie alle anderen Götter hat sich auch der Christengott noch niemals dazu geäußert, was Menschen in seinem angeblichen Auftrag schon alles getan und gelassen haben.

Religion als Motivation für praktisch jedes beliebige Verhalten

Das christliche Glaubenskonstrukt samt seiner biblischen Textgrundlage kann praktisch beliebig interpretiert werden. Als Beweis für diese These sind zum Beispiel die hilfsbereite Nonne, gleichzeitig aber eben auch die 10bändige Kriminalgeschichte des Christentums zu nennen.

Es ist nachvollziehbar, dass eine zeitgenössische Berufschristin wie Frau Eichert lieber an eine Glaubensschwester erinnert, deren Glauben diese zu mitmenschlichem Verhalten motiviert hatte. Und nicht etwa an einen der zahlreichen Christen, die ihr Glaube zu glühenden Verehrern und Unterstützern der Nationalsozialisten gemacht hatte.

Beispiele gäbe es auch hier mehr als genug: Vom einfachen Mitläufer-Schaf über nationalistische, rassistische und oft auch antisemitische Predigten in der Dorfkirche bis hin zur obersten bischöflichen Kirchenführung und natürlich bis zum Vatikan.

Die furchtbare Rolle der christlichen Kirchen und vieler ihrer Anhänger als willfährige Unterstützer der Nazidiktatur (bis über deren Ende hinaus) ist detailliert mit historischen Fakten belegt.

Von den umfangreichen Sonderprivilegien, die sich der Vatikan von Hitler in Form des Reichskonkordates hatte einräumen lassen, profitiert man wie selbstverständlich bis heute. Und tut einen sprichwörtlichen Teufel, irgendetwas von sich aus daran zu ändern. Solange es sich noch irgendwie verhindern lässt.

Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust

Wer sich für dieses Thema interessiert, dem sei die Lektüre des Buches „Von Golgatha nach Auschwitz. Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust“ von Reinhold Schlotz empfohlen – wenn auch mit Einschränkungen, auf die der hpd in diesem Beitrag hingewiesen hatte.

Eine gute Zusammenfassung des Buches gibt es in dieser Folge des MGEN-Podcasts. Um die Rolle der evangelischen Kirche im 3. Reich geht es ab Minute 35:40.

Monotheistische Buchreligionen wie das Christentum sind quasi wie gemacht für den Schulterschluss mit weltlichen Herrschern, die einen ähnlich absolutistischen Machtanspruch verfolgen: Das „Wort Gottes“ liefert nicht nur harmlosen Pastoralreferentinnen und hilfsbereiten orthodoxen Nonnen, sondern eben auch Populisten, Demagogen und Despoten jede Menge Stellen, die sie bestens für ihre Zwecke gebrauchen können.

Auch wenn sich liberale Mainstreamgläubige für diese Rolle ihrer Kirche schämen, so nehmen heute weltweit auch wieder die christlichen Strömungen zu, die genau dort anknüpfen, wo die klerikal-diktatorische Allianz damals geendet war.

Die Freiheit, selbstbestimmt auf unzumutbare Verhältnisse zu reagieren

Weiter berichtet Frau Eichert über Frau Pilénko:

[…] Was ist ihr Geheimnis? Ich glaube, sie fand sich nicht damit ab, dass die Nationalsozialisten ihr den Sinn des Lebens rauben wollten. Sie wehrte sich, gab ihrem Leben auch in der unmenschlichen Situation Sinn. Darin scheint sich eine letzte menschliche Freiheit zu zeigen: die Freiheit, die es möglich macht, selbstbestimmt auf unzumutbare Verhältnisse zu reagieren.
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Erinnerung an die Befreiung – Wort zum Sonntag, verkündigt von Lissy Eichert, veröffentlicht am 25.1.2020 von ARD/daserste.de)

Wenn eine Christin (zurecht) ein Loblied anstimmt auf „…die Freiheit, die es möglich macht, selbstbestimmt auf unzumutbare Verhältnisse zu reagieren“, dann löst dieser Wortlaut bei mir sofort eine andere Assoziation aus.

Mir stellt sich die Frage, warum die Kirche dann trotzdem bis heute meint, allen Menschen (und nicht nur ihren Mitgliedern!) vermittels politischer und gesellschaftlicher Einflussnahme eben diese menschliche Freiheit mit Verweis auf ihren absurden Schöpfungsglauben absprechen zu dürfen. Zum Beispiel dann, wenn es um selbstbestimmtes, würdevolles Sterben geht.

Gott hat einen Plan? Der Sinn des Leidens

[…] Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir in jeder Situation das Wozu des Lebens erkennen, um das Wie zu ertragen.

Einen solchen Spruch halte ich (potentiell, je nachdem, wie er gemeint sein soll) für problematisch: Damit lässt sich menschliches Leid relativieren, indem Leid, das ja einen Aspekt von empfindungsfähigem Leben darstellt ein Sinn zugesprochen wird.

Genau diese absurde und herabwürdigende Denkweise ist im Christentum immer wieder anzutreffen: „Das entspricht alles Gottes Plan“, „Das ist eine Prüfung meines Glaubens“, aber auch „Das ist die gerechte Strafe für mein Fehlverhalten.“.

Und wenn alle Stricke reißen, dann kann der fromme Christ seinen Gott immer noch in Schutz nehmen. Dann sind die göttlichen Wege eben „unergründlich“, ist „…der menschliche Verstand natürlich viel zu klein“ usw.

Als besonders fromm und tugendhaft gilt, wer trotz unerträglichen Leides quasi bis zum bitteren Ende noch am uneingeschränkten Glauben an einen personalen, allgütigen Gott festhält. An einen, der es trotzdem gut mit einem meint.

Nun kann es aber leider Situationen im Leben geben, die im wahrsten Wortsinn unerträglich sind. Eine solche existentielle Extremsituation kann dann durchaus zur Folge haben, dass jemand kein „Wozu“, also keinen Sinn mehr in seinem Dasein erkennen kann – und aber trotzdem mit sich im Reinen ist.

Auch wenn es für Gläubige vermutlich nur schwer vorstellbar ist: Eine wirklichkeitskompatible, rationale Weltanschauung kann wesentlich befreiender und beruhigender sein als das Fürwahrhalten der biblisch-christlichen Mythologie mit ihren abstrusen Erlösungs-, Bestrafungs- und Jenseitsphantasien.

Ich denke, was ich will und was mich beglücket…

All das sei Christen freilich gerne zugestanden. Für ihre religiösen Vorstellungen, so absurd, unplausibel, augenscheinlich rein fiktiv und nicht selten befremdlich sie auch bei Licht betrachtet auch erscheinen mögen, gilt (zumindest heutzutage und hierzulande) die Gedankenfreiheit. Wie für alle anderen Gedanken auch. Gedankenfreiheit ist einer der vielen Werte, die gegen den erbitterten Widerstand der Kirche erkämpft werden mussten.

Aber genauso wenig, wie man Gläubigen vorschreiben dürfte, auf ihre religiösen Einbildungen und Wunschvorstellungen zu verzichten, darf die Kirche Menschen mit anderer Weltanschauung vorschreiben, in deren persönliches Leid den (Un-)Sinn hineinzuinterpretieren, den das Christentum im Leid zu erkennen meint.

Meines Erachtens steht Frau Eicherts Lob des hohen Wertes der persönlichen Freiheit im Widerspruch zu der Ideologie der von ihr beworbenen Kirche. Eine Institution, die bis heute meint, mit magisch-esoterischen Pseudoargumenten eben diese Freiheit Aller einschränken zu dürfen. Und in deren zugrunde liegenden Lehre denjenigen eine zeitlich unbegrenzte Dauerbestrafung mit physischen und psychischen Höllenqualen bei vollem Bewusstsein angedroht wird, die es wagen, schon allein nur von ihrer persönlichen Gedankenfreiheit Gebrauch zu machen (Mk 16,16).

Die Diskrepanz zwischen der Absurdität und Unmenschlichkeit des biblisch-christlichen Belohnungs-Bestrafungskonzeptes auf der einen und unseren modernen humanistischen ethischen Standards auf der anderen Seite ist inzwischen so groß, dass Versuche, diese beiden Aspekte irgendwie unter einen Hut zu bekommen, nur noch so verzweifelt und hilflos erscheinen, dass einem diejenigen, die sich daran versuchen, fast schon leid tun könnten.

Zumindest bei den liberale(re)n Verkündigern kommt mir die biblisch-christliche Lehre immer mehr vor wie ein Klotz am Bein. Etwas, das es gilt, noch irgendwie mitzuschleppen. Und das man nach Möglichkeit versucht, mit theologisch-rhetorischen Tricks so zu kaschieren, dass das Ganze nicht gar zu sehr aus der Zeit gefallen zu sein scheint.

Die Interpretationen der grundlegenden Glaubensinhalte und Schriften hat dann mit den eigentlichen Aussagen praktisch nichts mehr gemein. Stattdessen tut man gerne so, als seien die Werte, auf denen unsere heutige freiheitliche Gesellschaftsordnung beruht, biblisch-christlichen Ursprungs. Das hat zur Folge, dass die Legende von der christlichen Moral bis heute in den Köpfen noch immer erstaunlich vieler Menschen herumspukt.

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3 Gedanken zu „Erinnerung an die Befreiung – das Wort zum Wort zum Sonntag“

  1. Das hätte sich Frau Eichert nun wirklich sparen können!
    Nach Aufassung des Christlichen Glaubens, sollte es doch den Christen völlig gleichgültig sein, ob die Juden nun befreit wurden, oder nicht. Die Juden legen doch ihren Glauben ohnehin völlig falsch aus und lehnen Jesus als Sohn Gottes ab und wandern ja eh alle in die Hölle. Da Christliche Anteilnahme, oder gar Mitleid für Holocaust-Opfer zu zeigen, ist m.E.n., verlogene Heuchelei!
    Das zeigt einmal mehr, die groteske Absudität, des Christentums und die darauf basierenede Nächstenliebe!
    Und wenn hier jemand ein Theodizee -Problem sieht: Meine Ansicht ist, dass „Auschwitz“ die Menschen zugelassen haben und nicht Gott!

    Antworten
    • Da Christliche Anteilnahme, oder gar Mitleid für Holocaust-Opfer zu zeigen, ist m.E.n., verlogene Heuchelei!

      Heuchlerisch wirds erst, wenn die Anteilnahme als genuin christliche Verhaltensweise dargestellt oder mit der biblisch-christlichen Mythologie begründet wird. So deutlich finden sich solche Aussagen heute kaum noch in religiösen Verkündigungen – da bringt man lieber Beispiele, in denen sich Gläubige mitmenschlich verhalten haben und überlässt den beabsichtigten Transfer (religiöser Glaube führt zu mitmenschlichem Verhalten) dem Zuschauer.

      Antworten
      • Das ist eindeutig und unmissverständlich mit der Bibel an mehreren Stellen belegbar
        (hier nur eine):
        >>Johannes 3,16:
        Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.<<

        Gott hatte also (vermutlich mangels Durchsetzungskraft, oder im Anfall hysterischen Aktionismus) keinen anderen Weg gefunden, als seinen Sohn zu ofpern.
        Was historisch nicht stimmt, beziehungsweise zweifehaft ist. Zu mal Jesus ja (nach Christlichem Glauben) am 3. Tage wieder auferstenden ist. Das verstehe ich nicht unter Opfertot. Was ist das für ein perverser, sadistischer Tyrann, der zu solchen Methoden greift, um die Menschen zu nötigen, damit sie an ihn glauben und ihn anbeten?
        Und wie oben erwähnt, lehnen die Juden, Jesus als Gottes Sohn ab. Also, sind sie gleich nach den KZ's (wo sie gefoltert und ermordet wurden), ins ewige Höllenfeuer gelandet!
        Mit so einer Auffassung und Überzeugung, würde ich mich schämen, ein Christ zu sein!
        Das ist die reinste Diffamierung und Verunglimpfung, der gesamten Holocaust-Opfer!

        Antworten

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