Vergib uns unsere Schuld – Das Wort zum Wort zum Sonntag

Lesezeit: ~ 7 Min.

Vergib uns unsere Schuld – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 21.08.2021 von ARD/daserste.de

Darum geht es

Frau Behnkens Schuld-Gedanken zum Thema Afghanistan zeigen einmal mehr die Armseligkeit dessen, was Religion heute noch zu gesellschaftlichen oder politischen Themen beizutragen hat.

Panischen Massen, die nur weg wollen. Menschen, die sich an Flugzeuge klammern. Menschen, die vom Himmel fallen.

„Nichts ist gut in Afghanistan.“

Elf Jahre alt ist der Satz von Margot Käßmann, damals Bischöfin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie sagte:

„Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen …“
(Quelle der so als Zitat gekennzeichneten Abschnitte: Vergib uns unsere Schuld – Das Wort zum Wort zum Sonntag, verkündigt von Pastorin Annette Behnken, veröffentlicht am 21.08.2021 von ARD/daserste.de)

Vorab: „Nichts ist gut in Afghanistan“ halte ich, zumindest unter Berücksichtigung der Vergangenheit, für eine unangebrachte Pauschalisierung.

Nichts ist gut in Afghanistan

Auch wenn unbestreitbar auch vor 11 Jahren längst nicht alles gut war in Afghanistan, so zeigen aber doch gerade die jüngsten Entwicklungen, dass es damals zumindest in einigen Bereichen besser war als es jetzt ist oder gerade wird.

Hatte Frau Käßmann mal näher erläutert, was sie sich konkret mit „Fantasie für den Frieden“ und „ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen“ vorstellt? Wenn man es mit fundamental-religiös-fanatischen Gotteskriegern zu tun hat? Deren erklärtes Ziel es ist, die Scharia möglichst weltweit einzuführen? Und zwar im vermeintlichen Namen und Auftrag eines Gottes? Der pikanterweise sogar, zumindest dem Ursprung nach, ja irgendwie auch noch ihr Gott war oder ist…? Isn’t it?

Wer sich dafür interessiert, wie die Zustände vor dem Wiedererstarken des Islamismus in diesen Ländern war, findet in der Facebook-Gruppe „Before Sharia spoiled everything“ jede Menge Bilder und Beiträge, vornehmlich aus den 1960er und 1970er Jahren.

Ich frage mich einmal mehr, wie Menschen, die nicht bereit oder in der Lage sind, die Gegebenheiten der irdischen Wirklichkeit als solche anzuerkennen auf die Idee kommen, sich basierend auf ihrer religiös erweiterten Phantasiewirklichkeit zu politischen Themen zu äußern.

Vergib uns unsere Schuld?

Aber zurück zum „Wort zum Sonntag“:

Ihre Aufzählung, was für sie im Bezug auf die Afghanistan-Krise alles „nicht auszuhalten“ ist, leitet Frau Behnken mit einer Zeile aus dem „Vaterunser“ ein:

Vergib uns unsere Schuld.

Allein diese kleine Zeile beinhaltet viel Frag- und Kritikwürdiges.

Fragwürdig, weil eine solche Bitte nur dann wenigstens theoretisch einen Sinn ergeben könnte, wenn der, an den diese Bitte gerichtet ist nicht nur existiert. Sondern wenn er auch an ihn herangetragene Bitten entgegennimmt. Und wenigstens eventuell sogar darauf eingeht.

Eine solche Vorstellung lässt sich redlicherweise von rein menschlichem Wunschdenken nicht unterscheiden. Wäre es anders, bräuchte es ja niemand zu glauben. Weil man es dann ja wissen könnte.

Abgesehen davon stellt sich hier auch einmal mehr die Frage, was es über einen angeblich sowieso schon allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott aussagt, dass sich Menschen einbilden, es wäre erforderlich oder sinnvoll, diesen um irgendetwas zu bitten. Verbal oder gedanklich.

Und kritikwürdig empfinde ich diese Zeile, weil Menschen, die sie beten und die tatsächlich an eine solche Vergebung glauben, ja offenbar davon ausgehen, dass eine eingebildete göttliche Vergebung tatsächlich irgendetwas an ihrer (oder an irgendjemandes) Schuld ändern würde.

Dazu kommt, dass diese Bitte um göttliche Vergebung ja dem restlichen Gebet zufolge nicht etwa im Interesse derer geschieht, denen gegenüber man sich womöglich schuldig gemacht hat. Diese Entschuldigungsbitte bezieht sich lediglich auf das eigene „Seelenheil“.

Verführerischer Gott?

Man entschuldigt sich schon mal vorsorglich, um so die Chancen auf die versprochene eigene postmortale Belohnung zu erhöhen. Damit Gott einen selbst „vom Bösen“ erlösen und nicht „in Versuchung führen“ möge.

Wie Christen auf die Idee gekommen sein könnten, warum ihr lieber Gott seine Anhänger überhaupt „in Versuchung führen“ könnte, das fragen sie sich inzwischen selbst. Andererseits steht das nun mal so im „Wort Gottes“ und kann deswegen nicht einfach so gestrichen werden.

Und außerdem eröffnet es Gläubigen das bequeme Hintertürchen, ihre eigene Schuld – einmal mehr – auf einen Gott abwälzen zu können, der sie dann eben in Versuchung geführt hatte… Da machste nix, wenn dich so ein Gott in Versuchung führt…

Nicht auszuhalten

Im Folgenden zählt Frau Behnken eine Reihe von Umständen auf, die sie für „nicht auszuhalten“ hält:

Nicht auszuhalten, dass wir Schutzbefohlene im Stich lassen.

Nicht auszuhalten, dass durch massive Fehleinschätzungen unserer Politik Menschen ermordet wurden und weitere leiden und sterben werden. Nicht auszuhalten, wenn Gott und Krieger, Gott und Staat wieder zu Gotteskriegern und Gottesstaat werden.

Frau Behnken, wie wärs mal mit einem „Wort zum Sonntag spezial“, in dem Sie Ihr Publikum über die Bedeutung des Säkularismus als Grundlage für offene und freie Gesellschaften aufklären?

Vielleicht ganz praxisnah, anhand der „Kriminalgeschichte des Christentums“?

In diesem Zusammenhang könnten Sie auch mal auf den Verein Säkulare Flüchtlingshilfe Berlin e.V. aufmerksam machen, der jede Unterstützung gebrauchen kann.

Ohne Aufklärung und Säkularisierung hätte das Christentum keinen Grund gehabt, auch nur einen Millimeter seiner Macht aufzugeben.

Solange die christliche Kirche noch die Macht dazu hatte, war ihr Gebaren durchaus vergleichbar mit dem heutiger „Gotteskrieger“. Natürlich sauber biblisch untermauert: Damals predigte man eben einfach Joel 4,10 statt Jesaja 2,4.

Instrumentalisierung politischer Themen für religiöse Zwecke

Nicht auszuhalten die scheinbare Logik militärischer Überlegenheit.

Inwiefern halten Sie die „Logik militärischer Überlegenheit“ für scheinbar, Frau Behnken? Was, meinen Sie, war der Grund, warum die Taliban nicht schon vor einem, zwei oder mehr Jahren das Land erobert hatten? Nein, das ist sicher kein Plädoyer für Krieg, sondern eine realistische Betrachtung der Faktenlage.

Nicht auszuhalten das Hin- und Herschieben von Schuldzuweisungen. Nicht auszuhalten, wenn die Situation wahlkampftatktisch benutzt wird. Nicht auszuhalten der Satz: 2015 darf sich nicht wiederholen.

Ebenfalls nur schwer auszuhalten: Die Instrumentalisierung politischer Probleme für religiöse Zwecke. Besonders dann, wenn diese Probleme reales Leid für reale Menschen beinhalten. Und wenn man außer einem irrelevanten Schuldeingeständnis nichts weiter beizutragen hat als seinerseits – Schuldzuweisungen. Die man ja eigentlich gerade selbst kritisiert.

…dankbar über jedes Eingeständnis von Schuld…

Nicht auszuhalten die Angst, dass es wieder so wird, wie es war. Als, auch mit Unterstützung der USA in den 90-ern die Taliban, ihren sogenannten Gottesstaat errichteten. Was hieß: Terror, Willkür und Gewalt. Was hieß: Foltern, vergewaltigen und morden. Und Kinder, die zu Terroristen ausgebildet wurden. Und werden.

Ich bin dankbar für alles, was jetzt getan wird, um Menschen aus dem Land zu holen. Und ich bin dankbar über jedes Eingeständnis von Schuld und Mitverantwortung von Politikerinnen und Politikern. Unsere Verantwortung. Die des politischen Westens.

Die Politiker der Parteien, die sich selbst „christlich“ nennen und die unter massivem kirchlichen Lobbyeinfluss stehen gehörten zu denen, die eine Evakuierung so lange abgelehnt hatten, bis es (wenn nicht für alle, dann aber vermutlich trotzdem für Viele) zu spät war.

Frau Behnken, wie erklären Sie es sich, dass Sie mit der selben Religion zu einer offenbar anderen Einschätzung kommen als Ihre politisch aktiven Glaubensbrüder und -schwestern?

Sie sagen, Sie seien „dankbar über jedes Eingeständnis von Schuld.“

Spielt es dabei für Sie keine Rolle, wem gegenüber jemand seine Schuld eingesteht? Halten Sie eine Schuld für vergeben, wenn zum Beispiel die Politiker des „politischen Westens“ öffentlich erklären würden, dass sie gerade gemeinsam ein Vaterunser gebetet, damit Ihren Gott um Vergebung gebeten und diese Vergebung auch tatsächlich von ihrem Gott erhalten haben?

Gottesreichsphantasien in der Bibel

Und ich denk an unser altes Gebet. In dem es heißt: Und vergib uns unsere Schuld.

Vergib uns unser Scheitern.

Von Scheitern steht nichts im „Vaterunser“, Frau Behnken. Das haben Sie dazugedichtet.

Weggelassen haben Sie indes andere Teile des Gebetes, dessen Namen Sie Ihrem Publikum aus irgendwelchen Gründen vorenthalten.

Weil das Vaterunser auch einige Stellen enthält, die sich perfekt zur biblisch-christlichen Legitimierung von Macht und Gewalt eignen (q.e.d.), hier der gesamte Text (Hervorhebungen von mir):

  • Vater unser im Himmel
    Geheiligt werde dein Name.
    Dein Reich komme.
    Dein Wille geschehe,
    wie im Himmel, so auf Erden.
    Unser tägliches Brot gib uns heute.
    Und vergib uns unsere Schuld,
    wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
    Und führe uns nicht in Versuchung,
    sondern erlöse uns von dem Bösen.
    Denn dein ist das Reich
    und die Kraft und die Herrlichkeit
    in Ewigkeit. Amen.
    (Matthäus 6,9-13 LUT)

Hier zeigt sich neben der Ichzentriertheit auch das Gefahrenpotential, das gerade monotheistische Religionen mit apostolischem Auftrag in sich bergen.

Religion ist „saugefährlich“

Wozu Menschen fähig sind, wenn sie nur fest davon überzeugt sind, einen göttlichen Auftrag zu erfüllen, davon erzählt die 10bändige „Kriminalgeschichte des Christentums„. Und das zeigt sich gerade auch ganz aktuell in Afghanistan.

Wer meint, das Christentum habe seine grausamen Zeiten doch schon längst hinter sich, der irrt leider. Als Beispiel neben vielen weiteren sei an dieser Stelle nur die Rolle der christlichen Kirche beim Völkermord in Ruanda genannt. Oder auch das Erstarken (rechts-)radikal-evangelikaler Spinnergruppierungen und Einzelspinner und deren Einfluss auf Politik und Gesellschaft.

Jedes Kirchenmitglied sollte sich bewusst machen, dass es durch ein Verbleiben in der Kirche auch für das Leid mitverantwortlich ist, das seine Religion bis heute verursacht.

Je weiter sich Gläubige von solchen Glaubensgrundlagen entfernen, desto eher können sie von der Gesellschaft toleriert werden. Die Lösung ist nicht noch mehr Religion. Sondern weniger.

Wertloses Schuldeingeständnis

Vergib uns, dass wir nicht besser verstanden, nicht schneller gehandelt haben. Vergib uns. Jeden Tod, den wir hätten verhindern können. Jede Wunde an Leib und Seele. Vergib uns. Vergib uns, die wir das alles nicht verstehen und durchschauen und manchmal gar nicht mehr wissen, was wir fühlen und denken sollen. Und was wir tun können.

Vergib uns unsere Schuld.

Schuldeingeständnisse vor imaginären Himmelswesen sind irrelevant. Sie dienen bestenfalls der emotionalen Selbstbefriedigung von Gläubigen.

Frau Behnken, wenn Sie sich entschuldigen möchten, dann tun Sie das bei denen, die von den Auswirkungen der Fehler betroffen sind, für die Sie sich (mit-)verantwortlich fühlen. Ihr Gott ist alt genug. Der möge sich um seine eigenen Angelegenheiten selbst kümmern.

VERNUNFT!

Und dann lass uns weitersuchen. Geduldig. Beharrlich. Mit mehr Vernunft.

Mit mehr Phantasie für den Frieden.

Frau Behnken, Sie bitten eine Gottesvorstellung, die sich die Priester eines halbnomadischen Wüstenstammes in der ausgehenden Bronzezeit aus früheren Gottesbildern zusammengebastelt hatten mit salbungsvollen Worten um Vergebung Ihrer/unserer Schuld – und fordern gleichzeitig mehr Vernunft?

Meinen Sie tatsächlich, fehlende Phantasie sei der Grund für Unfrieden? Meiner Wahrnehmung zufolge ist es gerade eher zuviel Phantasie, die den weltweiten Friedensprozess behindert, stoppt und umkehrt: Religiöse Phantasien von ewigen Gottesreichen, wie im Himmel, so auf Erden, von göttlicher Kraft und Herrlichkeit…

Vorschlag: „Wort zum Sonntag spezial

Die 6 Europäischen Werte
Die 6 Europäischen Werte. © TeamFreiheit.info – Humanistischer Verein für Demokratie und Menschenrechte

Das oben schon kurz vorgeschlagene „Wort zum Sonntag spezial“ zum Thema Säkularismus könnten Sie auch noch ausweiten. Und über mehrere Folgen verteilt die 6 Europäischen Werte vorstellen, auf denen offene und freie Gesellschaften entstehen können.

Damit hätten Sie auf jeden Fall einen wertvolleren Beitrag geleistet als ein zusammengestammeltes Schuldeingeständnis, durch das kein bisschen Schuld tatsächlich getilgt wird.

Wie Sie es schaffen, eine solche Serie an der ARD-Kirchenredaktion vorbeizuschmuggeln, kann ich Ihnen leider auch nicht sagen…

Weitere Beiträge zum Thema Schuld

  • hpd.de: Klaus Ungerer: Gott ist Rührei: Wie Rundfunkgebühren zu Predigten werden
  • AWQ.DE: Kommentar zu Nachgedacht 105: Schuldig in allen Belangen
  • AWQ.DE: Leben ist kämpfen – oder? Das Wort zum Wort zum Sonntag – Jakob
  • AWQ.DE: Wer ist Luther? (25) – Der Herrgott ist schuld
  • AWQ.DE: Gedanken zu: „Fest der unschuldigen Kinder“ – Traditionell: Lichterprozession und Rosenkranzgebet gegen die Abtreibung

…und die geradezu erbärmliche intellektuelle und inhaltliche Armseligkeit, die von einem dereinst sicher felsenfesten Gottvertrauen heute noch in der EKD übrig geblieben ist, findet sich auf der Webseite der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachen in diesem Gebet für die Menschen in Afghanistan.

 

 

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